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„Vatican Girl“ : Der Strafverfolger des Vatikans rollt den Fall Emanuela Orlandi neu auf

Verschwunden: Von Emanuela Orlandi fehlt seit 1983 jede Spur. Bild: KNA

Vor fast 40 Jahren verschwand die 15 Jahre alte Emanuela Orlandi spurlos. Seitdem blühen in Rom die Verschwörungserzählungen. Nun geht der Strafverfolger des Vatikans der Sache nach.

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          Wenn es aus dem Vatikan heißt, man werde etwas aufklären, ist Skepsis an­gezeigt. Ob es um Missbrauch geht oder um das Finanzgebaren, um Machtkämpfe oder konkurrierende Behörden: Der Modus Operandi ist das Vernebeln und nicht das Durchleuchten. Viel spricht dafür, dass es im Kasus Orlandi nicht anders sein wird.

          Matthias Rüb
          Politischer Korrespondent für Italien, den Vatikan, Albanien und Malta mit Sitz in Rom.

          Wie aus dem Nichts kündigte am Montag der Hauptstrafverfolger des Vatikans an, den Fall des vor fast vier Jahrzehnten verschwundenen Mädchens Emanuela Orlandi neu aufzurollen. Leiten wird die Ermittlungen Hauptstrafverfolger Alessandro Diddi, ein 57 Jahre alter Straf­verteidiger und Juraprofessor, der aus Kalabrien stammt und im September von Papst Franziskus zum Chefstaats­anwalt der vatikanischen Gerichtsbarkeit be­rufen wurde. Seit 2018 ist Diddi im Rechtswesen der Vatikanstadt tätig.

          Mafia, KGB oder „Graue Wölfe“?

          Nun also will er den wohl mysteriösesten Kriminalfall des Vatikans der vergangenen Jahrzehnte aufklären. Im Juni 1983 verschwand das damals 15 Jahre alte Mädchen Emanuela Orlandi. Die Tochter eines Hofdieners von Papst Johannes Paul II. kam vom Musikunterricht nicht nach Hause, bis heute fehlt jede Spur von ihr.

          Es gab und gibt wilde Spekulationen über die Hintergründe des mutmaß­lichen Verbrechens. Als Verdächtige wurden ranghohe Mitglieder der Kurie genannt, die das Mädchen missbraucht und gar geschwängert haben sollen, dazu korrupte Vatikan-Banker mit Verbindungen zur römischen oder sizilianischen Mafia. Nach anderen Erklärungsver­suchen beziehungsweise Verschwörungstheorien sollen der sowjetische Geheimdienst KGB oder die rechtsextreme türkische Terrorgruppe der „Grauen Wölfe“ hinter der Tat gestanden haben, Letztere hätten demnach mit dem entführten Mädchen den Papstattentäter Mehmet Ali Agca freipressen wollen. Sechs Wochen vor dem Verschwinden Emanuelas war zudem die ebenfalls 15 Jahre alte Römerin Mirella Gregori verschwunden, auch von ihr fehlt bis heute jede Spur. Hängen die beiden Fälle zusammen, wurden die Mädchen von den gleichen Tätern verschleppt, missbraucht und mutmaßlich umgebracht?

          Schweigen im Vatikan

          Die italienische Justiz, zuständig für die Lösung des Kasus Orlandi, hat ihre Ermittlungen 2015 eingestellt. Die Behörden des Vatikans haben in der Sache nie selbst ermittelt – bis zur überraschenden Ankündigung von Chefstaatsanwalt Diddi Anfang dieser Woche. Die noch heute im Vatikan lebende Mutter Emanuela Orlandis und deren älterer Bruder Pietro haben die Suche nach ihrer Tochter und Schwester nie aufgegeben, obwohl sie im Vatikan auf hartnäckiges Schweigen und eine „Mauer aus Gummi“ gestoßen seien, wie sie beklagen. Von den Ermittlungen unter Diddis Leitung erfuhren sie aus der Zeitung.

          Im Juli 2019 erfuhr der rätselhafte Kriminalfall eine weitere mysteriöse Wendung. Etwa ein Jahr zuvor hatte Laura Sgrò, Anwältin der Familie Orlandi, einen anonymen Brief mit dem Hinweis bekommen, wonach sich die sterblichen Überreste der vermissten Emanuela in den Gräbern der auf dem Campo Santo Teutonico im Vatikan bestatteten deutschen Prinzessinnen Sophie von Hohenlohe und Charlotte Friederike zu Mecklenburg befänden. Nach einigem Hin und Her wurden die Grabstätten schließlich geöffnet, doch zutage kam: nichts.

          Selbst die Gebeine der dort angeblich in den Jahren 1836 und 1840 bestatteten Prinzessinnen waren verschwunden. Nach dem Flop sagte die Rechtsanwältin, nun müsse man herausfinden, wer aus welchen Gründen die falsche Fährte gelegt und warum der Vatikan dem Antrag auf Öffnung der leeren Gräber zugestimmt habe. Nach allem, was man weiß, sind die Familie Orlandi und deren Anwältin Sgrò in dieser Frage ebenso wenig vorangekommen wie im Fall der verschwundenen Emanuela insgesamt.

          Im Herbst nahm sich der Streamingdienst Netflix mit der Doku-Serie „Vatican Girl: The Disappearance of Emanuela Orlandi“ (deutscher Titel: „Emanuela Orlandi: Verschwunden aus dem ­Vatikan“) des Falls an. Neue Erkenntnisse brachten die vier Folgen nicht, dafür wurden alte Theorien aufgewärmt und breitgetreten. In einer der Folgen berichtet eine damalige Freundin Emanuelas, diese habe ihr eine Woche vor ihrem Verschwinden anvertraut, sie sei von einer „dem Papst sehr nahestehenden Person“ sexuell belästigt worden, was Emanuela „verängstigt und beschämt“ habe. In der Serie kommt auch jenes angebliche Dossier im Vatikan zur Sprache, von deren Existenz auch die Familie Orlandi überzeugt ist. Von diesem Dossier zum Fall hätten alle drei Päpste Kenntnis gehabt, die seit dem Zeitpunkt des Verschwindens des Mädchens und danach auf dem Stuhl Petri saßen: neben Johannes Paul II. (1978 bis 2005) dessen an Silvester 2022 verstorbener Nachfolger Benedikt XVI. (2005 bis 2013) sowie Papst Franziskus.

          Auch Benedikts Privatsekretär Georg Gänswein kenne das Dossier, ist Emanuelas älterer Bruder Pietro Orlandi überzeugt. In seinem am Donnerstag in ­Italien erschienenen Erinnerungs- und Erkenntnisbuch „Nichts als die Wahrheit. Mein Leben an der Seite Benedikts XVI.“ beschäftigt sich Gänswein auf fünf Seiten auch mit dem Fall Emanuela. Gänswein schreibt unter anderem: „Ich habe nie etwas in Bezug zum Fall Orlandi zu­sammengestellt. Dieses Phantomdossier wurde nicht offengelegt, einfach nur ­deshalb, weil es nicht existiert.“

          Und nun also will Chefstaatsanwalt Diddi gemeinsam mit der Gendarmerie des Vatikans jeder „toten Spur“ neuerlich nachgehen sowie neue Spuren erstmals verfolgen. Er will alte und neue Zeugen vernehmen, unter ihnen Bischöfe und Kardinäle. Und er will die geschlossenen Akten der italienischen Strafverfolger wieder öffnen. Die hatten ihre Ermittlungen nach mehr als drei Jahrzehnten ergebnislos eingestellt. Ob Diddi und seine Leute auch so viel Zeit brauchen, um nichts herauszufinden?

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