
Kriminalpsychologe im Gespräch : „Die Handlung als solche ist eher spontan“
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Polizisten stehen neben einem ICE im Frankfurter Hauptbahnhof, nachdem es bei der Einfahrt zu einem schweren Unglück kam. Bild: dpa
Nach dem Mord an einem Achtjährigen am Frankfurter Hauptbahnhof kommen viele Fragen auf: Was steckt hinter solch einer Tat und ist sie vergleichbar mit einem Amoklauf? Ein Kriminalpsychologe gibt Antworten.
Die zeitliche Nähe zweier Ereignisse, bei denen Menschen vor einen Zug geschubst wurden, ist für viele alarmierend. Wie wahrscheinlich handelt es sich bei dem Fall am Frankfurter Hauptbahnhof, der knapp zwei Wochen auf den Mord im westfälischen Voerde folgte, um eine Nachahmungstat?
Es handelt sich wohl sehr wahrscheinlich um eine Nachahmungstat, wobei man den Begriff Nachahmungstat schon erläutern muss. Niemand wird zu einem Mörder, weil er hört, dass ein paar hundert Kilometer weit entfernt eine Frau vor den Zug geworfen und dadurch gestorben ist. Aber ähnlich wie bei Eisenbahnsuiziden – da hat man das schon seit Jahrzehnten kriminologisch untersucht – gibt es einen sogenannten Werther-Effekt. Das heißt Menschen, die in einer ähnlichen oder vergleichbaren Stimmung sind, depressiv sind oder mit ihrem Leben hadern, die können durch solch eine Tat dazu angeregt werden, zum Nachahmungstäter zu werden. Ähnlich sehe ich das bei dieser Tat in Frankfurt: Der Täter hat sicherlich mitbekommen, was in Voerde passiert ist. Er hat aber nicht aus dem Grund, weil er zuvor von einer ähnlichen Tat gehört hat, den Mord an den Jungen verübt, sondern weil er vorher schon in einer gewaltbetonten Stimmungslage war.
Es gibt die These, dass anfahrende Züge eine gewisse Anziehungskraft haben, die quasi den Todestrieb bei Menschen anregen. Sie haben eben das Stichwort Eisenbahnsuizide genannt: Gibt es einen Erklärungsansatz, warum speziell Züge immer wieder als tödliche Waffe gegen sich oder andere eingesetzt werden?
Es gibt nichts vergleichbares mit der gewaltigen Wucht eines herannahenden Zuges – außer vielleicht einen Blitz. Sigmund Freud ist sein Leben lang ungern Eisenbahn gefahren, hatte gar eine Eisenbahnphobie. In seinen Aufzeichnungen findet sich eine Erinnerung aus seiner Kindheit. Vor dem Umzug nach Wien stand er als Vierjähriger mit seiner Mutter in Böhmen am Bahnhof und es fuhr ein Zug ein. Er hatte den Eindruck, als hätte seine Mutter ihn in dem Moment fest an der Hand gepackt oder als wäre sie kurz davor gewesen mit ihm vor den Zug zu springen. Diese Erinnerung hat er in Form einer Angst vor Zügen verarbeitet. Auch wenn sich das vor hundert Jahren abgespielt hat – es zeigt, was Züge für eine Wirkung hervorrufen können. Vielleicht ist das vergleichbar mit Höhenangst. Auch hier liegt das Problem nicht in der Angst plötzlich herunterzufallen, sondern in der Angst herunter springen zu müssen. So als würde uns die Tiefe magisch anziehen. Jetzt wird es sehr tiefenpsychologisch: Das sind paradoxe Empfindungen zwischen Anziehung und Abstoßung.
Gibt es ein bestimmtes Muster, ein gemeinsames Motiv, das Menschen dazu antreibt, so etwas zu tun?
Nein, das gibt es nicht. Es gibt mehrere Muster. Auch im aktuellen Fall heißt es bislang, das Motiv sei unklar. Das stimmt nur bedingt, weil das Hauptmotiv offensichtlich war. Mit der Formulierung des „unklaren Motivs“ meint man: Was hat ihn dazu veranlasst? Da gibt es keine einheitliche Erklärung. Es kann zum Beispiel eine psychische Erkrankung sein. Im Falle des 40 Jahre alten Täters vom Frankfurter Hauptbahnhof wird bereits spekuliert, seine Traumata von einer möglichen Flucht aus Eritrea könnten der Auslöser sein. Das könnte sein, aber genauso gut könnte es nicht der Fall sein.
Handelt es sich eher um einen spontanen Akt oder eine geplante Aktion?
Das eine wird man von dem anderen wahrscheinlich nicht sehr leicht trennen können. Die Handlung als solche ist eher spontan, aber das heißt nicht, dass der Täter nicht schon seit Tagen, Wochen, Monaten durch die Gegend gelaufen ist und solche Tötungsgedanken mit sich herumgetragen hat. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass man die Tat, jemanden vor den Zug zu schubsen, konkret plant. Die Möglichkeit des Entdecktwerdens auf solch einem öffentlichen Platz ist enorm groß. Es sind nicht nur viele Zeugen vor Ort, auch sind an Bahnhöfen meist viele Kameras installiert. Wer so etwas macht, geht ein extrem hohes Risiko ein. Anders gesagt: Es ist ihm egal, ob er erwischt wird. Sonst würde er es im Geheimen machen und aus dem Hinterhalt hervorspringen. Vielleicht war diese Öffentlichkeit, vor aller Augen, genau das, was er wollte: Gesehen werden, beobachtet zu werden, aber nicht unbedingt erwischt zu werden, denn sonst wäre er nicht davongelaufen.
Sind die Fälle, in denen Menschen andere vor den Zug werfen, vergleichbar mit Amokläufen?
Es gibt insofern Ähnlichkeiten, als dass es Morde sind, die für die Opfer völlig unvorbereitet kommen, dass es oft keinen nennenswerten Bezug zwischen Tätern und Opfern gibt und dass es einen Nachahmungseffekt gibt. Nach dem Amoklauf in Erfurt 2002 wurde viel in Deutschland spekuliert, ob der Nachahmungseffekt groß sein wird. Sogenannte „amerikanische Verhältnisse“ wurden vermutet, aber sind zum Glück nie eingetreten. Was die Motivation der Täter angeht, wäre ich jedoch vorsichtig, große Parallelen zwischen diesen „Bahnhofsmorden“ und Amokläufen zu ziehen, weil es bei ersterem zu wenig vergleichbare Fälle gibt und die Hintergründe zu unterschiedlich sind.
Dass Menschen vor einen Zug geschubst werden, hört man nicht häufig. Passiert diese Form des Mordes häufiger oder handelt es sich hier um Einzelfälle?
In den vergangenen Jahren waren es immer nur vereinzelte Fälle. Dieses Jahr haben wir nun schon zwei und es könnte noch weitere geben, wenn der Hype darum noch weiter anhält. Ich hoffe, dass die Diskussionen über die Ereignisse schnell wieder abebben und nicht in einer Panik generalisiert werden. Natürlich betrifft die Menschen solch ein Ereignis. Ich muss oft an dem Frankfurter Hauptbahnhof umsteigen und bin mir sicher, dass ich in nächster Zeit mit einem mulmigen Gefühl an Gleis 7 vorbeigehen werde. Aber es nützt ja nichts: „Angst essen Seele auf“, wie ein Film des Regisseurs Rainer Werner Fassbinder heißt, deshalb müssen wir dennoch in einem gewissen Urvertrauen weiterleben.