Geplante Gesetzesverschärfung : Stalking-Opfer sollen ihr Leben nicht erst ändern müssen
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Ein Stalking-Opfer schaut im Oktober 2014 in Schwerin auf die Straße. Mehr als jeder zehnte Deutsche wird im Lauf seines Lebens gestalkt. Bild: dpa
Stalking wird künftig früher strafbar sein – nicht erst, wenn Opfer ihren Wohnort oder Arbeitsplatz gewechselt haben. Verbänden geht der Gesetzentwurf dennoch nicht weit genug.
Wenn er sagte, er brauche sie wie die Luft zum Atmen, fühlte sich Ingrid Beck, als würde er ihr die Luft abdrücken. Da war ihr klar, dass mit der neuen Bekanntschaft aus einer Partnerbörse etwas nicht stimmte. Aber es wurde noch viel schlimmer: Er stand vor ihrer Haustür, stundenlang, auch vor dem Büro, unterstellte ihr eine Affäre mit dem Briefträger, hackte ihr Mail-Konto und konfrontierte sie mit Mails, die sie einem Bekannten geschrieben hatte. Er drohte, er werde sich etwas antun – oder ihr.

Redakteurin im Frankfurter Allgemeine Magazin.
Ingrid Beck, eine 48 Jahre alte Oberfränkin mit dunkler Stimme, arbeitet heute für „Gemeinsam gegen Stalking“, eine Initiative, die sie selbst gegründet hat. Eine der Frauen, die sich hilfesuchend an sie wandte, wurde von demselben Mann bedroht wie sie.
Bis heute, erzählt sie, saß dieser Mann außer während der Untersuchungshaft nie im Gefängnis, obwohl er Dutzende Frauen verfolgt, beleidigt und bedroht hat. Ingrid Beck hofft, dass so etwas mit dem neuen Stalking-Gesetz ein Ende hat.
Stalking ist erst seit 2007 überhaupt strafbar
Stalking, auf Deutsch Nachstellung, ist erst seit 2007 ein gesonderter Straftatbestand. Dabei ist Stalking weit verbreitet. Eine Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen kam 2015 zu dem Ergebnis, dass 20 Prozent aller Frauen und elf Prozent aller Männer in Deutschland schon einmal gestalkt wurden. Vor 2007 waren nur Delikte wie Bedrohung, Hausfriedensbruch, Körperverletzung oder Beleidigung strafbar, die oft mit Stalking einhergehen. Nachstellung kann mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden – wenn sie mit einer „schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung“ des Opfers einhergeht.
Menschen wie Ingrid Beck stört das seit jeher, denn es bedeutet, dass das Opfer zum Beispiel erst umziehen oder den Job wechseln oder irgendetwas anderes tun muss, was diese Beeinträchtigung nachweist.
Bundesjustizminister Heiko Maas ist jetzt darauf eingegangen. Er hat im Februar einen Gesetzentwurf präsentiert, der aus einem Erfolgsdelikt ein Eignungsdelikt machen soll. Das bedeutet: Stalking ist künftig schon dann strafbar, wenn es dazu geeignet ist, das Opfer schwerwiegend zu beeinträchtigen. Diese Beeinträchtigung muss nicht erst tatsächlich „erfolgen“, damit eine Straftat vorliegt.
Beleidigungen auf gefälschten Online-Profilen
Mary Scherpe fordert genau das schon seit eineinhalb Jahren. Ihr Stalker, ein früherer Freund, von dem sie sich nach drei Monaten getrennt hatte, schickte ihr Babynahrung und Prospekte für eine Brustvergrößerung und legte unter ihrem Namen Profile bei sozialen Netzwerken an, auf denen eine Frau mit einer Tüte über dem Kopf zu sehen war oder Beleidigungen zu lesen waren.
Die 1982 in Sachsen geborenen Mode-Bloggerin erzählt diese Dinge ruhig und gefasst. So hat sie es auch damals bei der Polizei getan. Heute glaubt sie: Das war ein Fehler. Ihre Anzeige ließ man fallen, weil sie nicht als schwerwiegend beeinträchtigt eingestuft wurde, weiterhin bloggte und nicht aus ihrer Wohnung in Berlin-Kreuzberg auszog.
Also begann sie die Erfahrungen mit ihrem Stalker in einem Blog („Eigentlich jeden Tag“) aufzuschreiben, aus dem später ein Buch entstand – und veröffentlichte im September 2014 auf change.org einen Aufruf. Trotz des sperrigen Namens „Änderung des Stalking-Paragrafen §238 vom Erfolgs- zum Eignungsdelikt“ unterschrieben ihn knapp 90000 Personen. Im Dezember 2014 überreichte sie Maas die Unterschriften im Justizministerium.
Stalker als Geiselnehmer
Die ehemalige bayerische Justizministerin Beate Merk hatte sich zu dieser Zeit schon mit Opferverbänden wie dem von Ingrid Beck getroffen und mehrfach Forderungen, den Stalking-Paragraphen zu verschärfen, in den Bundesrat eingebracht, auch ihr Nachfolger Winfried Bausback. Anlass für das bayerische Engagement war ein aufsehenerregender Kriminalfall: Im August 2013 hatte ein Mann in Ingolstadt drei Geiseln genommen, eine von ihnen hatte er zuvor gestalkt – und dafür bloß eine Bewährungsstrafe bekommen.
Dass nach ihrem Treffen mit Maas noch einmal mehr als ein Jahr verging, bis überhaupt ein Entwurf vorlag, der jetzt noch durch den Gesetzgebungsprozess muss, kann Mary Scherpe nicht verstehen. Abgesehen davon ist sie mit dem Entwurf aber zufrieden. Wolf Ortiz-Müller hingegen stört sich an dem Wort „schwerwiegend“. Der Leiter der an Opfer und Täter gerichteten Berliner Beratungsstelle „Stop Stalking“ sagt, der Begriff sei juristisch unscharf.
In der Vergangenheit interpretierten Richter eine „schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung“ fast immer als Umzug oder Arbeitsplatzwechsel. Nun solle ein weiterer unbestimmter Rechtsbegriff das Dilemma lösen, kritisiert Ortiz-Müller. Was konkret „geeignet ist“, schwerwiegende Beeinträchtigungen herbeizuführen, bleibt nach seiner Meinung ebenfalls vage. Es bestehe deshalb die Gefahr, dass Opfern Hoffnungen gemacht würden, die sich nicht erfüllen ließen.
Opferschutz mindestens so wichtig wie Gesetzesverschärfungen
Hilfreicher wäre aus seiner Sicht deshalb, die Formulierung „schwerwiegende Beeinträchtigung“ durch „erhebliche Beeinträchtigung“ zu ersetzen und diesen Begriff mit Kriterien zu konkretisieren, etwa ständige ungewollte Kontaktaufnahmen, die das Opfer ängstigen und die Gestaltung seines Tagesablaufs beeinträchtigen.
Mindestens so wichtig wie Gesetzesänderungen sei aber ohnehin ein konsequenter Opferschutz. Zurzeit würden zwei Prozent der etwa 20000 Stalker verurteilt, gegen die in Deutschland jährlich Strafanzeige gestellt wird. „Selbst wenn sich die Verurteilungsrate auf vier Prozent verdoppelt, wären 96 Prozent der Opfer immer noch ziemlich unglücklich“, sagt Ortiz-Müller.
Um die Opfer zu schützen, müsse man auch auf die Täter zugehen. Er wünscht sich, dass Initiativen wie seine frühzeitig über Anzeigen informiert werden, damit sie den Tätern ein Beratungsgespräch anbieten können. Nicht weil man Mitleid mit den Tätern haben muss. Sondern weil die Opfer erst dann Ruhe finden, wenn die Täter nicht mehr stalken.
Beratungsgespräche für Täter helfen auch den Opfern
In Bremen zum Beispiel schalte die Polizei, wenn eine Anzeige wegen Nachstellens eingeht, sofort eine Beratungsstelle ein. Der Täter werde dann aufgefordert, zu einem Beratungsgespräch zu gehen. In den meisten anderen Städten werde er nur einmalig zur polizeilichen Vernehmung vorgeladen – und erfahre dann Monate später von der Staatsanwaltschaft, dass das Strafverfahren eingestellt wurde.
Ingrid Beck sieht das ähnlich. Sie befürchtet, dass Richter Stalking auch mit dem verschärften Gesetz oft als Kavaliersdelikt abtun werden. Statt Angebote für die Täter fordert sie mehr Gesetze, die Stalking erschweren, dass etwa Prepaid-Karten fürs Handy nur unter Vorlage eines Personalausweises gekauft werden können.
Rund 80 Prozent der Stalker sind Männer, ihre Opfer meist Frauen. Manchmal werden Nachbarn oder Kollegen zu Stalkern. Manchmal Wildfremde, vor allem im Fall von Prominenten. Anfang März wurde einer amerikanischen Sportjournalistin, deren Stalker sie heimlich nackt im Hotelzimmer gefilmt hatte, Schadenersatz zugesprochen. Gwyneth Paltrow hingegen scheiterte Mitte Februar mit ihrer Klage gegen einen Stalker, der ihr Sexspielzeug geschickt, das Haus ihrer Eltern aufgesucht und sie bedroht hatte.
Täter sind oftmals Ex-Partner
Fälle wie diese sind aber die Ausnahme. Meist sind die Täter frühere Partner des Opfers, die es nicht ertragen, verlassen zu werden. Ihr Ohnmachtsgefühl kompensieren sie mit Nachstellungen. Viele haben ein geringes Selbstwertgefühl. Ohne Anerkennung und Aufmerksamkeit fühlen sie sich wertlos. Andere, so Ortiz-Müller, sind ängstlich und zwanghaft veranlagt. Wenn Frauen stalken, weiß Ingrid Beck zu berichten, wollen sie oft die soziale Existenz ihrer Opfer zerstören. Die Opfer wiederum schämten sich oft so sehr, dass sie lange brauchten, um sich Hilfe zu holen.
Zu „Stop Stalking“ kommen nicht nur Stalker, die vom Gericht dazu verurteilt werden, sondern auch Freiwillige, die sich selbst nicht wiedererkennen in ihrem Drang, jemanden zu belästigen und zu schaden. Ortiz-Müller versucht dann, herauszufinden, was die Trennung in den Männern oder Frauen hervorgerufen hat, um so im besten Fall deren Einstellung zu Liebe und Trennung zu ändern.
Wenn das nicht gelingt, reicht es aber auch schon, ihr Verhalten zu ändern. „Wenn jemand sagt: Ich denke noch jeden Tag an sie, habe sie aber seit einem halben Jahr nicht mehr kontaktiert, dann ist das okay.“
Der Tag der Kriminalitätsopfer
Am 22. März wird an die Lage von Menschen erinnert, die Gewalt und Kriminalität erfahren haben. 1986 beging eine schwedische Organisation diesen Tag erstmals mit Glockenläuten und Kerzen in den Fenstern, 1991 zog in Deutschland der Weiße Ring nach. Der Opferhilfeverein besteht seit 1976. Damals suchten vor allem Opfer von Körperverletzung und Raub Hilfe. Heute geht es meist um psychische Gewalt wie Stalking. Der Weiße Ring fordert Entschädigungszahlungen auch für Opfer dieser Form von Gewalt. (lfe.)