Freispruch nach fünf Jahren Haft : Wie konnte es zu diesem Fehlurteil kommen?
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Horst Arnold (links), hier mit seinem Anwalt Hartmut Lierow, saß fünf Jahre unschuldig im Gefängnis Bild: dpa
Der Lehrer Horst Arnold saß fünf Jahre im Gefängnis, weil er seine Kollegin vergewaltigt haben sollte. Das Landgericht Kassel sprach ihn in einem Wiederaufnahmeverfahren frei. Er sei „nachweislich unschuldig“.
Der Richter von damals kommt als Unscheinbarer. Jeans, offenes Hemd, kein Jackett. Der Mann, der 2002 wie ein Herrenreiter durch das Vergewaltigungsverfahren am Landgericht Darmstadt geprescht sein soll, hält seine Aktentasche in der Hand, als gebe sie ihm Halt. Jetzt ist er Zeuge. Im Wiederaufnahmeverfahren vor dem Landgericht Kassel soll er erklären, wie er damals zu seinem Urteil gelangt ist: Mit einer Haftstrafe von fünf Jahren ging das Gericht sogar über den Antrag der Staatsanwaltschaft hinaus. Der Darmstädter Richter spricht mit leiser Stimme. Seine Antworten kommen schleppend, die Pausen scheinen unendlich lang. Meistens beruft er sich auf Erinnerungslücken. Warum ihm die Aussage des Angeklagten damals nicht plausibel schien? Schweigen. Kopfschütteln. Schweigen. Schließlich stellt ausgerechnet die Nebenklagevertreterin eine ungewöhnliche Frage: „Waren Sie und die Kammer überzeugt, dass der Angeklagte schuldig ist?“ Der Richter sagt: „Die Kammer war der Überzeugung.“ Als der Unscheinbare entlassen wird, schleicht er förmlich aus dem Saal.
Wiederaufnahmeverfahren sind selten, die Hürden, um ein rechtskräftig gewordenes Urteil anzufechten, hoch. Längst hatte der Lehrer aus dem Odenwald, der zehn Jahre lang mit dem Stigma lebte, in einer Schulpause seine Kollegin vergewaltigt zu haben, seine Strafe abgesessen, bis zum letzten Tag. Er hatte darüber seinen Job verloren und seine Gesundheit eingebüßt, inzwischen lebt er von Hartz IV. Die Tat hat er immer bestritten. Jetzt sprach das Landgericht Kassel ihn frei. Und nicht nur das. Der Angeklagte sei „nachweislich unschuldig“, sagte der Vorsitzende, auf das angebliche Opfer als einzige Zeugin „beim besten Willen kein Verlass“. Ungewöhnlich deutlich formulierte der Richter auch seine Kritik an den Kollegen: „Das hätte das Gericht in Darmstadt erkennen müssen.“ Wie kommt es zu einem solchen Fehlurteil?
Selbstüberschätzung und Alkohol
Er, Horst Arnold, war Sportlehrer, ein Mann, der Zeugen zufolge zur Selbstüberschätzung neigte. 43 Jahre alt, Cabriolet, immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Sein Problem mit dem Alkohol war bekannt. Auch nach mehreren Flaschen Wein am Abend gab er am Tag darauf Unterricht, ohne dienstrechtliche Konsequenzen. Wenn er getrunken hatte, konnte er ausfällig werden.
Sie, Heidi K., war Mitte 30. Die Sommerferien waren eben zu Ende gegangen, seit drei Wochen unterrichtete die alleinerziehende Mutter aus dem Raum Detmold Deutsch und Biologie an der Georg-August-Zinn-Gesamtschule in Reichelsheim. Man wusste nicht viel über die neue Kollegin. Aber sie galt als hübsch, eloquent und zugewandt.
„Wir hatten einen sehr schweren Stand“, sagt Rechtsanwalt Andreas Pöschke, der Arnold vor dem Landgericht Darmstadt vertrat. Die Staatsanwaltschaft habe das Bild eines Mannes gezeichnet, dem die Tat zuzutrauen sei: Hier ein Kuss auf die Wange einer Sechzehnjährigen, dort eine Klassenfahrt, auf der Minderjährige soffen, ohne dass ihr Lehrer eingeschritten wäre. Entzugsversuche, Beschwerden in der Schulakte sowie eine Verflossene, die von körperlicher Gewalt berichtete. Wer weiß, ob ein besserer Anwalt in dieser Lage mehr hätte bewirken können. Aber Pöschke sagt: „Die wollten ihn unbedingt verurteilen, weil die sich vermutlich auch nicht vorstellen konnten, dass eine Frau sich eine solche Geschichte ausdenkt.“