Organspende-Skandal : Moralisch missbilligt – rechtlich nicht
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Aiman O. (MItte) mit seinen Anwälten vor Gericht Bild: dpa
Weil er eigenmächtig entschied, welcher Patient eine Organspende verdiente, stand ein Arzt in Göttingen vor Gericht. Nun wurde er freigesprochen, das Gericht sah die Vorwürfe gegen ihn als nicht erwiesen an.
Anwalt Steffen Stern schreckt vor gewagten Beispielen nicht zurück, wenn er verständlich machen will, warum er das Verfahren für eine Farce hält. Die Tatsache, dass seinem Mandanten der Prozess gemacht wird, weil er Menschen das Leben rettete, die nach den Regeln der Bundesärztekammer (BÄK) hätten sterben sollen, vergleicht Stern vor einer Woche in seinem Plädoyer mit dem Flüchtlingsdrama vor Italien. Wie der Fall der Fischer, die dort als Schlepper angeklagt wurden, weil sie Flüchtlinge retteten, sei dieser Prozess „eine Perversion des Rechts“.
Fast zwei Jahre lang dauerte der erste deutsche Prozess in einem der Skandale um die betrügerische Vergabe von Spenderorganen. Genauso lange attackierten Stern und sein Mandant, der frühere Leiter der Transplantationschirurgie an der Uniklinik Göttingen, das System der Organvergabe. Vor allem auf die BÄK-Richtlinie, wonach alkoholkranke Patienten mindestens sechs Monate trocken sein müssen, bevor sie für eine Lebertransplantation in Frage kommen, hatten sie sich eingeschossen. Als das Gericht Aiman O. einmal fragt, ob er eine Patientin auch operiert hätten, wenn er von ihrem Alkoholmissbrauch gewusst hätte, sagt er: „Ich hätte sie nicht sterben lassen.“
Aiman O. hat davon gewusst – das ist die Erkenntnis der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Göttingen nach mehr als 60 Verhandlungstagen und 100gehörten Zeugen. In acht der elf Fälle, in denen sich Aiman O. verantworten musste, weil er den Alkoholmissbrauch seiner Patienten verschwiegen oder Patientenakten frisiert haben soll, um schneller an Spenderlebern zu kommen, hält ihn die Kammer für verantwortlich. Passieren wird ihm dennoch nichts.
Jeder hat das Recht, dass ihm geholfen wird
Die Kammer hat Aiman O. am Mittwoch in allen Punkten freigesprochen. Das liegt zum einen an der Sechs-Monats-Regel für Alkoholiker. Der Vorsitzende Richter Ralf Günther erklärte sie in der Urteilsbegründung für verfassungswidrig. Denn, so Günther, jeder Mensch habe das Recht, dass ihm nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft geholfen werde, Trinker ebenso wie Raucher oder Fettleibige: „Die Richtlinie verstößt gegen das Recht auf Leben.“
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz lobt daher das Urteil. Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit müsse nun von der Politik beantwortet werden. Die Ständige Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer kündigt Änderungen an: In begründeten Ausnahmefällen dürfe künftig von der Sechs-Monats-Regel abgewichen werden.
Auch die Manipulationen an den Patientenakten hält das Gericht nicht für strafbar – weil sie damals gar nicht als Straftat galten. Der Gesetzgeber handelte erst, als der Skandal in Göttingen und ähnliche Fälle in anderen Städten aufflogen. Das war auch der Staatsanwaltschaft Braunschweig klar, die in Göttingen aber Tatsachen schaffen wollte. Sie erhob den Vorwurf des versuchten Totschlags – Aiman O. habe in Kauf genommen, dass andere Patienten länger auf ein Organ warten und damit ihren Tod riskiert.
Staatsanwaltschaft will Revision einlegen
Vor Gericht verfing diese Argumentation nicht. In einzelnen Fällen hatte die Kammer recherchiert, was aus den Patienten wurde, die auf der Warteliste nach hinten rutschten. Die komplexe Angelegenheit fasst Richter Günther am Mittwoch so zusammen: „Die Auswirkungen der Manipulationen sind nicht feststellbar.“ Der Angeklagte hatte demnach „berechtigten Anlass zu glauben, dass die anderen Patienten nicht sterben“.
Das Gericht sprach Aiman O. auch in den drei „Indikationsfällen“ frei. Dabei warf ihm die Anklage vor, Patienten ohne Notwendigkeit eine Leber verpflanzt zu haben; die Patienten starben an den Folgen der Operation. Die Anklage sieht darin vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge. Doch das Gericht kommt zu dem Schluss: In allen drei Fällen war eine Transplantation die einzige Möglichkeit, die Patienten endgültig von ihrem Leiden zu befreien.
Als Niederlage will die Staatsanwaltschaft, die Aiman O. für acht Jahre ins Gefängnis bringen wollte, das Urteil nicht verstanden wissen. Eine Sprecherin kündigte an, dass die Behörde Revision beim Bundesgerichtshof einlegen werde. Denn es gehe um Rechtsfragen, „die in Zukunft auch für andere Gerichte von Bedeutung sein werden“. Anwalt Steffen Stern macht nach dem Urteil einen anderen Punkt aus, der die Gerichte nun beschäftigen dürfte: „Jetzt stellt sich die Frage nach der Verantwortlichkeit für die vielen Patienten, die die Sechs-Monats-Frist nicht überlebt haben.“
Ärztekammer sieht „gravierende Verstöße“
Der Freispruch des Göttinger Transplantationsarztes ist in Berlin mit Zurückhaltung aufgenommen worden. Das Gesundheitsministerium erklärte, vor einer Kommentierung wolle man die schriftliche Begründung abwarten. Womöglich habe das Urteil gar nicht Bestand, weil eine Revisionsinstanz angerufen werde. Der gesundheitspolitische Sprecher der Union, Jens Spahn (CDU), sagte, nach heutiger Rechtslage wäre das Verfahren in Göttingen anders ausgegangen. Jeder, der eine Warteliste für Organe manipuliere, müsse wegen regelmäßiger Kontrollen damit rechnen, erwischt und hart bestraft zu werden. „Eine solche Manipulation ist kein Kavaliersdelikt, sondern respektlos und ethisch verwerflich.“ Der Vorsitzende Richter hatte erklärt, der Arzt habe zwar gegen Richtlinien der Bundesärztekammer verstoßen. Auch sei es zu Manipulationen gekommen, die nach moralischen Wertvorstellungen zu missbilligen seien. Diese Verstöße seien aber nicht strafbar gewesen. Die Bundesärztekammer hielt gleichwohl fest, dass am Göttinger Transplantationszentrum verbindliche Richtlinien „in gravierender Weise“ missachtet oder auf andere Weise verletzt worden seien. Dies zu sanktionieren sei aber nicht ihre Aufgabe, sondern die der zuständigen Landesaufsicht. Das Gesundheitsministerium wies darauf hin, dass die Kontrollen im Jahr 2012 gesetzlich verschärft worden seien. Unregelmäßigkeiten müssen genau nachverfolgt und Verfehlungen müssen zur Anklage gebracht werden. Nach Bekanntwerden des Skandals 2012 war die Zahl der Spenden und Spender um mehr als ein Viertel zurückgegangen. Laut Deutsche Stiftung Organtransplantation hat sie sich 2014 mit 864 Organspendern auf niedrigem Niveau stabilisiert. (ami.)