
„Reichsbürger“-Szene : Schießerei im Staat Ur
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Mix aus rechtsextremistischer Ideologie, Geschichtsrevisionismus und Verschwörungsphantasien: Ein Teilnehmer einer Demo gegen das „Bilderberg-Treffen“ im Juni in Dresden. Bild: Ullstein
Erst lachten die Dorfbewohner: Ein ehemaliger Schönheitskönig stilisiert sich zum radikalen Staatskritiker. Dann eskaliert die Situation, Schüsse fallen. Kann das in anderen Fantasie-Staaten auch passieren?
Die angebliche Staatsgrenze ist noch immer markiert. An einem dicken Baumstamm hinter dem Gartenzaun sind zwei laminierte Computerausdrucke befestigt. Der obere zeigt eine Phantasiefahne: In die schwarz-weiß-roten Querstreifen der Deutschen Reichsflagge ragt seitlich ein Zacken hinein, auf dem ein Wappen mit einem gekrönten Stier prangt. Auf dem unteren steht: „Hier beginnt der Staat Ur. Es gelten ausschließlich die Gesetze des Staates Ur. Zuwiderhandlungen werden hart bestraft.“ Die Buchstaben sind schon ein bisschen blass.
Anderthalb bis zwei Jahre mögen die selbstgebastelten Schilder hängen, so genau weiß das an der Alten Poststraße in Reuden keiner. Es gab keinen Festakt, keine Zeremonie, keine öffentliche Veranstaltung, um die Gründung eines Zwergstaats in der Nachbarschaft bekannt zu machen. Bis vor kurzem waren nicht einmal die Lokalpolitiker der Gemeinde, zu der Reuden gehört, informiert.
Aber eines Tages fingen die Leute in dem kleinen Dorf mitten im Braunkohlegebiet im südlichen Sachsen-Anhalt an, einander auf die merkwürdigen Filme und Einträge aufmerksam zu machen, die sich neuerdings im Internet finden ließen. Ihr Nachbar Adrian Ursache, der 1998 den Titel „Mr. Germany“ gewonnen und fünf Jahre später eine „Mrs. Germany“ aus dem Ort geheiratet, mit ihr zwei Söhne bekommen und das Haus neben den Schwiegereltern bezogen und umgebaut hatte, nannte sich dort plötzlich „Stefan der Große“ oder „Ich bin“. Er schimpfte auf das „Micky-Maus-Grundgesetz“ und die Polizei. Die Kanzlerin und den Bundespräsidenten nannte er „Frau Ferkel“ und den „Gauckler“: „Diese beiden Vollpfosten reißen die Nation in den Abgrund“, wetterte er.
„Wir haben gedacht, der macht das nur aus Spaß“
Anfangs lachten die Leute in Reuden darüber oder verdrehten die Augen. „Wir haben erst alle gedacht, der macht das nur aus Spaß“, sagt ein Spaziergänger mit Hund. Wie absurd: Ein früherer Schönheitskönig stilisiert sich zum Fundamentalkritiker des Landes, das ihm einst diesen Titel verliehen hat. Der Mann mit Hund seufzt: „Ich weiß nicht, was passiert ist mit dem. Auf jeden Fall hat er es wirklich ernst gemeint.“
An einem Donnerstag Ende August stürmt ein Spezialeinsatzkommando der Polizei das Areal an der Alten Poststraße. Das Haus der Familie Ursache mit seinem lachsfarbenen Giebel und der griechischen Säule vor dem Eingang ist zwangsversteigert worden. Jetzt steht die Räumung an. Eigentlich hatte sich der Gerichtsvollzieher schon für den Vortag angekündigt. Aber Adrian Ursache hat Unterstützung zusammengetrommelt. In einem im Internet veröffentlichten Video heißt es: „Wenn irgendeine Sau versuchen sollte, uns hier von unserem heiligen Boden zu entfernen, wird das mit Blut bezahlt werden, egal ob Frauen, Kinder, Schwangere. Der Staat Ur gehört den Menschen in Ur.“ Den Gerichtsvollzieher bedroht er persönlich. Er zeigt ein Foto des Mannes mitsamt Namen und Adresse und sagt: „Sei bereit zu sterben. Ich werde dich abschlachten wie Vieh.“
Am Tag der angekündigten Zwangsräumung ist die Alte Poststraße zugeparkt. Im Garten der Schwiegerfamilie, zwischen Trampolin, Kirschbaum und Fußballtor, stehen Zelte. Viele Anhänger sind aus anderen Bundesländern angereist, laut Landesverfassungsschutz sind zwei bekannte Rechtsextremisten da. Die Polizei zählt bis zu 120 Menschen auf dem Gelände.
Ursache lächelt nach Angriff auf Polizisten
Als die Beamten am nächsten Morgen mit 200 Mann anrücken, ist es nur noch ein gutes Dutzend. Was daraufhin genau passiert, ist jetzt Gegenstand von Ermittlungen. Die Polizei wird mit Steinen beworfen, Adrian Ursache soll einen Revolver gezückt haben. Mindestens vier Schüsse fallen. Ursache wird mit dem Hubschrauber auf die Intensivstation gebracht, zwei Polizisten erleiden leichte Verletzungen. Wenige Tage später ergeht Haftbefehl gegen Ursache wegen des Verdachts auf versuchten Totschlag, er wird ins Haftkrankenhaus verlegt. Vorher jedoch posten seine Anhänger Märtyrerfotos von ihm aus dem Klinikbett und schreiben von einem Mordversuch.