Die Beute Bronzen
Von LUTZ MÜKKE und MARIA WIESNERVor 120 Jahren raubten die Briten Kunstschätze aus dem Königreich Benin. In Nigeria kennen selbst junge Leute die Geschichte der Bronzen. Jetzt wäre es an der Zeit, sie zurückzugeben. Aber es passiert: nichts.
I m British Museum wird die Geschichte umgedeutet. Als britische Truppen im Jahr 1897 ins Königreich Benin kamen, so erklärt der Audio-Guide vor der hohen Wand mit den Bronzeplatten, hätten sie rund 900 dieser Reliefs „halbverschüttet in einem Lagerhaus entdeckt“. Eine verwegene Formulierung. Denn die Elitesoldaten der Royal Navy retteten damals nicht mal eben ein paar Kunstschätze vor dem Vergessen. Die Wahrheit ist: Sie plünderten das Lagerhaus und brannten den gesamten königlichen Palast nieder.
Den ganzen Morgen damit beschäftigt, Häuser niederzureißen.
23. Februar:
Mit Niederreißen verbracht. Harte Arbeit.
Der Sieg über das Königreich Benin wurde 1897 begeistert gefeiert. Königin Victoria gratulierte der Royal Navy zum gelungenen Einsatz. Londoner Zeitungen brachten Sonderausgaben darüber, wie die britischen Truppen einem grausamen afrikanischen Königreich ein Ende bereitet hatten. Und es begann eine Odyssee von 3500 bis 4000 geraubten Objekten. Einige der schönsten Stücke gingen an die Queen, die meisten wurden nach Rückkehr der Truppen zur Finanzierung des Kriegs an Museen und Sammlungen in aller Welt verkauft. Viel von der Kriegsbeute behielten die Elitesoldaten selbst.
Heutige Standorte geraubter Benin-Objekte
Die Angaben der Karte sind nach bestem Wissen und Gewissen recherchiert, jedoch nicht vollständig. Grundlage der Informationen waren aufwändige Recherchen inklusive der Sichtung der Websites der angegebenen Institutionen zwischen September und Dezember 2017. Die weltweite Verstreuung der 1897 geraubten Benin-Objekte, ihre Besitzer- und Ortswechsel, schwierige Objektbiografien sowie Transparenzaspekte machen die Recherchen komplex. Für Informationen, die zur Vervollständigung und Präzisierung der Karte beitragen, sind wir im Rahmen dieses Rechercheprojekts dankbar: beninloot@gmail.com
Mark Walker ist der Enkel eines solchen Soldaten. Um ihn zu treffen, geht die Reise nach Nord-Wales. Der pensionierte Herr empfängt im Königlichen Yachtclub von Caernarfon. Draußen stürmt der Herbstwind, drinnen erinnern grüne Ledersessel, poliertes Kupfer und dunkles Holz an die guten alten Tage des britischen Empire. Walker, ein passionierter Hochsee-Segler, hebt sich ab von dieser Umgebung: Er trägt Sandalen ohne Socken, Jeans und eine abgetragene cognacfarbene Wildlederjacke. „Socken ziehe ich erst an, wenn ich auch Handschuhe brauche“, sagt er und setzt sich die Lesebrille auf.
Auf dem Tisch liegt das Tagebuch seines Großvaters von 1897. Captain Herbert Walker lief damals aus Liverpool zur „Benin-Strafexpedition“ aus. Mark Walker bekam das Tagebuch in den sechziger Jahren von seiner Großmutter gezeigt. Damals sah er auch zum ersten Mal die Bronzen, die sein Großvater als Beute mitgebracht hatte. Ein schöner bronzener Vogel diente als Türstopper. Mehr noch als die Kunstwerke faszinierte ihn aber das Tagebuch, in dem der Großvater die Invasion dokumentiert hatte. Es war voll von Zeitungsausschnitten und selbstgemachten Fotos. In gestochener Handschrift und militärisch kühl beschrieb er die Plünderung der Königsstadt Benin-City.
20. Februar:
Alles von Wert, das wir im Palast des Königs und den umliegenden Häusern gefunden haben, wurde im ,Palaver House‘ zusammengetragen. (…) Viele Bronzefiguren und geschnitzte Elfenbeinzähne wurden gefunden. Zwei Stoßzähne und zwei Leopardenfiguren aus Elfenbein wurden für die Königin reserviert. Der Admiral und seine Leute waren sehr damit beschäftigt, Stücke zu ,sichern‘, daher bezweifle ich, dass viel für die kleineren Fische übrig bleibt, selbst wenn wir Träger finden würden, die die Stücke abtransportieren könnten. Das ganze Camp ist voller Beute.
21. Februar:
Den ganzen Morgen damit beschäftigt, Häuser niederzureißen.
23. Februar:
Mit Niederreißen verbracht. Harte Arbeit.
Auf den Aufnahmen: Dörfer nach der Zerstörung, geschnitzte Stoßzähne auf einem Haufen, Berge von Bronzeplatten. Bildunterschrift: „Beute“.
Mark Walker erbte die Bronzen mit über 70 Jahren. Seine Kinder waren nicht sonderlich daran interessiert. Und seine Frau mochte keinen Schnickschnack im Haus. Also entschied er sich, die Stücke den Menschen zurückzugeben, „denen sie kulturell etwas bedeuten“. Das aber war einfacher gedacht als getan.
Walker googelte und stieß auf Steve Dunstone, einen Sicherheitsunternehmer, der eine britische Hilfslieferung nach Nigeria begleitet hatte und auf die Bronzen angesprochen worden war. Ob er nicht etwas für die Rückführung tun könne, da die Bronzen für die Edo, das Volk des Königreichs Benin im heutigen Nigeria, von großer Bedeutung seien. Wobei die „Benin-Bronzen“ (die meist aus Messing sind) zum Synonym wurden für das gesamte Raubgut aus Benin-City, auch für Objekte aus Elfenbein, Holz oder Korallen.
Mark Walker brauchte Dunstone, denn Rückgaben sind nicht ungefährlich. Bei Nigeria-Fahrten wird zu gepanzerten Fahrzeugen geraten. Immer wieder werden Geschäftsleute entführt und Lösegelder erpresst. Die Bronzen sind kostbar. Wertvolle Stücke erzielten auf Auktionen Preise von mehreren Millionen Dollar.
Walker traf Steve Dunstone 2012 in Oxford und zeigte ihm eine Bronze-Glocke und den Ibis, der den Edo als Vogel der dunklen Vorsehung gilt. An wen sollte er die Bronzen zurückgeben? An die Regierung Nigerias? An den Bundesstaat Edo, in dem das Königtum Benin heute liegt? Oder an den Oba von Benin, den Nachfahren jenes Königs, dessen Palast die Briten 1897 geplündert hatten?
Als Walker der nigerianischen Botschaft in London seinen Plan schilderte, dem Oba die Werke zu übergeben, war man dort gar nicht begeistert. Die Objekte sollten vielmehr dem Kulturminister in Lagos übergeben werden, man stellte sogar die Übernahme der Reisekosten in Aussicht. Aber Walker beharrte auf seinem Wunsch und bezahlte selbst. Das Königshaus sollte die Stücke zurückbekommen.
Mark Walker hatte viel über die Rückgabe von Kunstschätzen gelesen, die jüdischen Familien von den Nazis geraubt worden waren. Häufig sei es die zweite Generation, die solche Stücke dann zurückgab. So wollte auch er es halten. Es sollte aber noch zwei Jahre dauern. Walker wurde 2014 in Benin-City empfangen, mehr als 1000 Gäste jubelten ihm auf dem Gelände des Königspalastes zu, es wurde getanzt und gesungen. Der damals schon 93 Jahre alte König hielt eine emotionale Rede, ebenso der Gouverneur des Bundesstaates Edo. Am Ende fand sich Walker umringt von Menschen. „Alte und Junge, Männer und Frauen, alle wollten mich anfassen und mir danken. Das war für mich der bewegendste Moment.“
Warum so viel Aufmerksamkeit, so viele Berichte in der Presse? Mark Walker hatte eine Antwort gefunden auf die Frage nach der Restitution von Raubkunst, über die im Westen jahrzehntelang nur von Fachleuten diskutiert wurde. Betroffen sind letztlich Abertausende von Antiquitäten aus ganz Afrika, die in europäischen und amerikanischen Sammlungen und Museen lagern oder auf dem Kunstmarkt hohe Summen erzielen.
Das Königreich Benin im historischen Handelssystem

Europa
Mittelmeer
Atlantik
Tunis
Nord-
amerika
Fes
Tripolis
Marrakesch
Sahara
Karibik
Timbuktu
heutiges Nigeria
Benin-City
Süd-
amerika
Königreich Benin um 1200
ungefähre Handelsrouten
maximale Expansion im
16. und 17. Jahrhundert
Handel mit Sklaven
und anderen „Waren“
Quelle: Lutz Mükke nach Leonard Harding und Slavevoyages.org / Basiskarte: Google Maps
Grafik: F.A.Z. (sieber, jpg)

Europa
Atlantik
Nord-
amerika
Tunis
Mittelmeer
Fes
Tripolis
Marrakesch
Sahara
Karibik
Timbuktu
heutiges Nigeria
Benin-City
Südamerika
Königreich Benin um 1200
ungefähre Handelsrouten
Quelle: Lutz Mükke nach Leonard Harding und Slavevoyages.org
Basiskarte: Google Maps
Grafik: F.A.Z. (sieber, jpg)
maximale Expansion im
16. und 17. Jahrhundert
Handel mit Sklaven
und anderen „Waren“
Die Debatte der Museen
N eben Großbritannien sind in keinem anderen Land so viele geraubte Benin-Bronzen gelandet wie in Deutschland. Völkerkundliche Museen in Berlin, Köln, Dresden, Leipzig, Stuttgart, Mannheim oder München stellen sie aus. Hamburger Handelshäuser, die 1897 in Westafrika agierten, machten damit Geschäfte. Das Museum für Völkerkunde der Hansestadt kam zu einer ansehnlichen Sammlung. In der großen Eingangshalle des Museums bittet eine Mitarbeiterin resolut um Verständnis: Bitte keine Fotos! Man sei nicht glücklich mit den alten Ausstellungen und konzipiere gerade alles neu.
Seit April 2017 ist Barbara Plankensteiner Direktorin des Hauses. Die Fachfrau für das alte Königreich kuratierte 2007 eine Benin-Ausstellung am Museum für Völkerkunde in Wien (heute Weltmuseum), die auch in Paris, Chicago und Berlin gezeigt wurde. Es gelang ihr, wichtige Werke aus europäischen Museen zusammenzuführen und die nigerianische Regierung sowie das Königshaus in Benin einzubinden. Trotz des Erfolgs der Ausstellung sei damals ein fader Beigeschmack geblieben, sagt die Professorin. Das westliche Publikum bestaunte die spektakulären Ausstellungsstücke. Aber was war mit den Nachfahren der Urheber?
Mit ihrem nigerianischen Kollegen Nath Mayo Adediran überlegte Barbara Plankensteiner, ob eine solche Ausstellung nicht auch in Nigeria möglich sein könnte. 2010 organisierte sie ein Treffen europäischer und nigerianischer Experten. Es ging zunächst darum, „die Erwartungen der verschiedenen Parteien zu diskutieren“, sagt die 54 Jahre alte Ethnologin. Westliche Museumskuratoren hatten wegen der Restitutionsansprüche stets Abstand gehalten. Den Nigerianern war immer vorgehalten worden, ihr Land sei zu korrupt, ihre Museumsarbeit zu unprofessionell.
In der Benin-Dialog-Gruppe begann nun ein diplomatischer Prozess. Die Experten konnten nicht über Rückgaben befinden, aber Vorurteile aufbrechen. Zum zweiten Treffen kam es 2011 in Berlin, zum dritten 2013 in Benin-City. Dort wurde der „Benin Plan of Action“ verabschiedet. Von Restitution ist darin keine Rede mehr.
Eine Ausstellung in Nigeria? Davon ist man immer noch weit entfernt. „Im Moment geht es um Dauerleihgaben“, sagt Plankensteiner. Investitionen in die nigerianischen Museen wären nötig. Sie hofft, eine Stiftung oder eine internationale Organisation zu finden, die das Benin-Projekt unterstützt. „Wir alle haben mit eigenen Finanzierungssorgen zu kämpfen. Da tut man sich schwer damit, für ein solches Projekt zusätzlich Geld aufzubringen.“ In den Hallen des Hamburger Museums kann man sich noch auf eine ethnologische Weltreise begeben, wie Völkerkundemuseen sie seit dem 19. Jahrhundert anbieten – vorbei an exotischen Masken der Südsee, einer altägyptischen Mumienhülle und einem „indianischen Cadillac, in dem gern Platz genommen werden darf“. In Zeiten, in denen die Welt durch Internet, Migration und Billigflüge zusammengerückt ist, will ein solches Konzept nicht mehr so recht aufgehen. Das ethnologische Narrativ vom Vordringen in die Seelen exotischer Völker und dunkler Kontinente wirkt verbraucht bis bizarr. Die drei Hamburger Benin-Bronzen in der Ausstellung „Africa’s Top Models“ stehen unter dem Slogan „Jung, Potent, Mächtig schön“. Derweil lagert die beachtliche Benin-Sammlung von etwa 150 Objekten im Depot. Benin bekomme seinen Platz in der Dauerausstellung, wenn diese neu gestaltet sei, sagt Plankensteiner. Aber wann wird das sein? Seit 20 Jahren hat „eines der wichtigsten ethnographischen Museen in Europa“ nicht einmal das Geld für die Kuratorenstelle der Afrika-Sammlung. Plankensteiner hofft aufs Fundraising, auf die reiche Stadt Hamburg. Auf vielen Völkerkundemuseen lastet ein großer Modernisierungsdruck. Die Zeiten der Kuriositätenkabinette und völkischer Vitrinen-Zuordnungen sind vorbei. Ein starker Impuls für den Wandel erreicht die ethnologischen Museen durch die Debatte um das Humboldt-Forum.
Auch das Berliner Ethnologische Museum zählt zu den wichtigsten völkerkundlichen Einrichtungen. Hier findet sich die zweitgrößte Sammlung an Benin-Objekten, etwa 550 Stück. Seit Januar 2017 ist das Museum wegen Umzugs geschlossen. Das 1873 gegründete Haus lag bislang abseits, in Dahlem, und soll nun im neu aufgebauten Berliner Stadtschloss, im Humboldt-Forum, eröffnet werden. Eine halbe Milliarde Euro wurde ins Schloss investiert. Die Hauptstadt möchte sich im Kreis der „weltweit führenden Kultur- und Museumsstädte“ etablieren. Doch die Zweifel wuchsen spätestens im Sommer 2017, als die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, die an der Technischen Universität lehrt, aus der Expertenkommission des Humboldt-Forums austrat, weil es eine Pro-forma-Veranstaltung sei, der es an Transparenz, Teamgeist und Verantwortungsbewusstsein mangele.
Der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK), die im Humboldt-Forum die ethnologischen Sammlungen präsentieren soll, attestierte sie „Sklerose“. Die „Schweinereien“ aus 300 Jahren Sammeltätigkeit behandle man wie Atommüll, den man unter einer Bleidecke begrabe. „Humboldt, Provenienz, Multiperspektivität, Shared Heritage“ – das seien nur Schlagworte. Seitdem versuchen die Gründungsintendanten des Humboldt-Forums, der einstige Direktor des Britischen Museums, Neil MacGregor, SPK-Präsident Hermann Parzinger und der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, den Schaden zu begrenzen. Provenienzforschung, so meinen sie, sei „die DNA“ des Humboldt-Forums.
Mnyaka Sururu Mboro und Christian Kopp lächeln darüber. Mboro, 66 Jahre alt, ist aus Tansania nach Deutschland gekommen. Er meint, selbst der Umgang des Ethnologischen Museums mit den Tausenden Menschenknochen aus Afrika, die zu rassenanthropologischen Forschungs- und Sammelzwecken während der Kolonialzeit nach Berlin gebracht worden waren, sei peinlich. Darunter seien auch Gebeine prominenter Aufstandsanführer, die von deutschen Kolonialbeamten hingerichtet wurden. Die Nachkommen wollten die Gebeine seit Jahrzehnten zurück, bewegt habe sich aber wenig. Mboro und Kopp gehören zum Netzwerk „No Humboldt 21!“, das die Schlossbefürworter mit Demonstrationen, Podiumsdiskussionen und Mitspracheforderungen nervt. Das neue Konzept des Humboldt-Forums, so meinen die Aktivisten, verletze die Würde und die Eigentumsrechte von Menschen, sei eurozentrisch und restaurativ.
Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz habe sogar juristische Schritte angedroht, weil die Initiative angeblich das Logo der Stiftung und des Forums missbraucht habe. Im stilisierten Logo der Initiative schmilzt der preußische Adler weinend dahin. Kopp, 49 Jahre alt und Mitarbeiter des Vereins Berlin Postkolonial, kritisiert, viele der mehr als 500.000 Sammlungsstücke des Museums seien nur durch koloniale Machtausübung nach Berlin gekommen. Diese Hintergründe müssten transparent gemacht werden, und es müsse eine Debatte über die Restitution von Raubkunst her, auch zu den Benin-Bronzen. Mboro trinkt in einem Café in der Nähe des Schlosses seinen Saft aus und muss schnell los. Er ist Stadtführer für Berliner Kolonialgeschichte. Trotz kalten Dauerregens warten draußen 30 Leute auf ihn.
Trauma in Nigeria
I m Exil wirken die Benin-Bronzen museal, scheinen aus längst vergangenen Epochen zu uns herüber zu schauen. Um ihre wahre Bedeutung zu verstehen, muss man nach Nigeria, wo die Debatte nicht theoretisch ist. Der Direktflug von Frankfurt nach Lagos, dem 20-Millionen-Moloch, dauert sechs Stunden. In einem der besseren Viertel auf dem Festland hat der nigerianische Superstar Adekunle Gold sein Apartment. Der Dreißigjährige ist Künstler und Sänger. Vor zwei Jahren startete er mit einer Single in den nigerianischen Charts, es folgte ein Album, das es auf Platz sieben der weltweiten Billboard-Charts schaffte. Er ist gerade auf dem Sprung nach New York, aber nimmt sich noch Zeit – „wegen dieses Themas“. Seine Musik ist sanft, zu den Bronzen aber findet er harte Worte: „Wie kann es sein, dass ich bis nach London fliegen muss, um etwas anzuschauen, das zu meiner Kultur gehört, das uns gestohlen wurde?“
So wie er fühlt das halbe Land. Die musealen Debatten im Westen – in Nigeria sind sie ein nachwirkendes koloniales Trauma. Victor Ehikhamenor, einer der Künstler, die 2017 erstmals Nigeria auf der Kunstbiennale in Venedig repräsentierten, geriet dort prompt in einen Kulturkampf. Als er die Ausstellung von Damien Hirst besuchte, sah er eine Plastik, die er aus seiner Heimat kannte. Hirst hatte sich bei den nigerianischen Ife-Köpfen bedient. Da Ehikhamenor keinen Verweis auf den afrikanischen Ursprung fand, entrüstete er sich auf Instagram und trat damit eine Debatte über kulturelle Aneignung los.
Dem Künstler, der eine Ausstellung für London fertigstellt, ist das Thema „enorm wichtig“. Sein Atelier liegt im Stadtteil Ikoyi. Um vom Festland dorthin zu kommen, überquert man die große Lagune von Lagos über die längste Brücke Westafrikas. Auf den vorgelagerten Inseln wohnten in der Kolonialzeit die Europäer. Heute befinden sich in Ikoyi Galerien, Agenturen, Banken, Clubs. Ehikhamenors Atelier liegt in einem zweistöckigen Haus. Unten wird gebaut. Wenn Lagos ein Geräusch wäre, dann das des Baulärms, der nur von Stromausfällen unterbrochen wird. Hämmern und Bohren begleiten das Interview.
Der Künstler, der aus Benin-City stammt, erinnert sich noch gut daran, wie er die Bronzen zum ersten Mal sah, im British Museum. „Ich hätte damals fast geweint. Es war überwältigend.“ Dass er dafür bis nach London fahren musste, erzürnt ihn. „1897 – das war auch ein ökonomischer Krieg gegen uns. Und der hält bis heute an.“ Kein Nigerianer bekomme ein Visum, wenn er angebe, er wolle ein Museum in London, New York oder Berlin besuchen, um die Kulturgüter seines Landes zu betrachten. Mit Eintrittsgeldern, Katalogen und Bildrechten werde viel Geld verdient. Die Museen seien wichtige Anziehungspunkte für Touristen. Auch deshalb sollten die Bronzen in das Land ihres Ursprungs zurückkehren. Ehikhamenor sieht aber auch die nigerianische Regierung in der Pflicht: „Wenn wir sie zurückbringen wollen, müssen wir ihnen einen Platz einräumen, wo man sie entsprechend ausstellt und bewahrt.“
Die Benin-Bronzen sind in Nigeria zum emotionalen Symbol kolonialer Erniedrigung geworden. Man sieht es auch an zwei Spielfilmen. Der aufwendig gedrehte Historienfilm „Invasion 1897“ lief 2014 im nigerianischen Fernsehen. In „Die Maske“ (1979) bricht der Held, ein nigerianischer James Bond, ins British Museum ein und versucht, die Idia-Maske zurückzuholen, die erste Maske, die einer Königinmutter nachempfunden wurde, einer Kriegerin des 16. Jahrhunderts.
So lange wie das Flugzeug von Frankfurt nach Lagos braucht, so lange braucht der Bus für die 300 Kilometer von Lagos in die Stadt des Königs von Benin, die Stadt der Bronzen: Benin-City. Jeder Reisende hat mindestens drei Gepäckstücke dabei, die vom Fahrer hinter, zwischen und unter die Sitze gedrückt werden. Das Busunternehmen heißt „God is good“ – im Süden Nigerias ist das Christentum noch gut unterwegs. Nach anderthalb Stunden wird aus der zweispurigen Straße eine Löcherpiste. Manchmal liegen Bäume quer, dann weichen alle auf die Gegenfahrbahn aus. An Straßensperren halten Uniformierte Autos an und gestikulieren mit Maschinenpistolen, wenn man weiterfahren soll. Den Bus winken alle durch, vermutlich wegen der Aufschrift. Endlich erreicht er Benin-City, ohne Zwischenfälle. God is good!
In der Stadt herrscht Trubel. Der neue König hat erst vor einem Jahr den Thron bestiegen, nachdem sein Vater gestorben war. Nun feiert Oba Ewuare II das Jubiläum. Das Volk strömt zum Palast, der an jener Stelle wieder erstand, an der 1897 der alte Palast von der Royal Navy abgebrannt worden war. Die Palastmauer im Zentrum der Stadt ist ockerrot. Das Tor zum Vorhof steht offen. Bewaffnete kontrollieren auch die Kleiderordnung. Wer schwarz trägt, wird nach Hause geschickt; die Nicht-Farbe gilt als böses Omen.
Auf dem Vorplatz warten alle auf den Oba. Die alten Herrscherhäuser Nigerias sind heute wieder mächtig. Zum Inthronisierungsfest kommen hohe Gratulanten aus Calabar, Lagos, Jos. Das Kalifat Sokoto und das Königshaus Ile-Ife haben Abgesandte geschickt. Die Delegationen bestehen aus Dutzenden Oberhäuptern, Familienmitgliedern, Politikern. Teils 1000 Kilometer weit sind Tänzer, Sänger, Musiker und Reiter angereist. Die Feierlichkeiten dauern bis in den Abend, wenn sich Flughunde in schwarzen Schwärmen in die Dämmerung erheben. Niemand weiß, wann der Oba erscheinen wird. Endlich geht ein Raunen durch die Menge. Aus dem Eingang des Palastes kommt eine Prozession, alles erhebt sich. Oba Ewuare II nimmt auf seinem Thron Platz. Zu seiner Linken sitzen seine fünf Ehefrauen, drei Kinder am Fuß des Throns.
An der Wand hinter dem König hängen Reliefs. Vor 1897 verzierten Hunderte solcher Bronzen die Wände des Palastes. Das Edo-Volk nutzte keine Schriftsprache, sondern hielt auf den Bronzen alle wichtigen Ereignisse fest. An den Platten ließ sich ablesen, welche Taten ein König vollbracht hatte, wann wer gegen wen Kriege führte, wie die Nachfolge geregelt wurde und welche Rituale abgehalten wurden. Viele Benin-Antiquitäten hatten sakrale Funktionen und waren Kommunikationsmittel der Könige mit ihren Vorfahren. Gestohlen wurden also das Nationalarchiv und die Reliquien des Landes. Seit 100 Jahren haben alle Könige Benins dieses Erbe zurückgefordert, seit 100 Jahren werden sie ignoriert.
Für das Thema Benin-Bronzen spricht am Königshof Prinz Edun Akenzua, der Bruder des 2016 verstorbenen und Onkel des jetzigen Königs. Sein Haus ist wie der Königspalast von einer ockerroten Mauer umgeben. Er sitzt auf seinem Thron, trägt das traditionelle weiße Gewand und mächtige rote Korallenketten. Wie bei Männern seines Standes üblich, spricht er leise. Manchmal übertönt ihn sogar das Gezwitscher des Kanarienvogels, dessen Käfig neben dem Thron hängt. Prinz Edun Akenzua weist so ruhig wie nachdrücklich darauf hin, dass die Plünderung der Briten vorsätzlich gewesen sei. „Bevor die Strafexpedition losgeschickt wurde, gab es einen Brief an das Foreign Office in London, in dem mitgeteilt wurde, dass im Palast in Benin genug Schätze zu finden seien, um einen Krieg zu refinanzieren.“
Prinz Edun Akenzua fordert, wie sein König, die Rückgabe der Bronzen. Im Jahr 2000 trug er die Restitutionsansprüche auch in London vor dem Unterhaus vor, einer von vielen erfolglosen Versuchen.Auf die Frage nach der Sicherheit in nigerianischen Museen antwortet er: „Das ist, als ob man Ihr Auto klauen würde, Sie den Dieb finden und es zurückfordern, und man sagt Ihnen daraufhin, dass der neue Besitzer viel besser mit dem Auto umgehe als Sie, und Sie müssten erst eine Garage bauen, um es zurückzubekommen.”
Ministerpräsident Godwin Nogheghase Obaseki hat seinen Amtssitz im Zentrum der Stadt im Edo State Government House. Auch für ihn hat das Thema Benin-Bronzen höchste Priorität. Der Termin wird kurzfristig ermöglicht. Obaseki kommt mit schnellem Schritt ins Sitzungszimmer. „Diese Kunstwerke verkörpern das, was wir sind: unser Volk, unsere Kultur, unsere Religion, auch einen Teil unserer politischen Struktur“, sagt er. „Sie sind Symbole unserer Identität. 100 Jahre nachdem sie uns mit fürchterlicher Gewalt entrissen wurden, versuchen wir immer noch, sie zurückzubekommen. Was 1897 passierte, hat unser ganzes Volk traumatisiert. Es war ein Schock. Vergessen Sie nicht, dass Benin einst eine Weltmacht war.“
Der Ministerpräsident sagt, die Rückholung der Bronzen könne dabei helfen, das koloniale Trauma zu überwinden. Seine Regierung arbeite mit dem Königshaus, „dem rechtmäßigen Besitzer“, und der Zentralregierung in Abuja zusammen. Man werde auch Wege finden, dieses Weltkulturerbe in Benin-City der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Obaseki, 58 Jahre alt, ist seit knapp zwei Jahren im Amt. Er studierte Wirtschaft und Finanzen an der Columbia University, organisierte Weltbankprojekte und arbeitet federführend am Entwicklungsplan für Edo State, einen von 36 nigerianischen Bundesstaaten. Wegen der fruchtbaren Böden und des guten Klimas sind die landwirtschaftlichen Erträge gut, es gibt Bodenschätze, Öl, Gas, Kautschuk, Palmöl. Große Infrastrukturprojekte sind geplant. China soll einen Hochseehafen und Straßen bauen, man will diversifizieren, weg von der Erdöl-Abhängigkeit. Auch Tourismus soll dabei eine Rolle spielen. Das Museum im Zentrum der Stadt sei gerade erst in Kooperation mit amerikanischen Partnern renoviert worden: „Schauen Sie sich das Haus und die neue Ausstellung an!“
Alle großen Straßen in Benin-City laufen strahlenförmig auf den King’s Square zu, eine riesige Verkehrsinsel inmitten der 1,5-Millionen-Metropole. Innerhalb dieses Rondells steht das Nationalmuseum, ein zylinderförmiger Bau. Es ist eine Mutprobe, über die vielen Fahrspuren durch den tosenden Verkehr auf die Museumsinsel zu kommen. Die Tour von Museumsführer Ikhuehi Omonkhua durch die tausendjährige Geschichte des Königreichs nimmt eine Stunde lang gefangen. Es geht vorbei an Sockeln, Schautafeln, Benin-Bronzen und Replikas, Plastiken der Königin-Mutter, Bronzen einiger Obas, wandgroßen historischen Fotos vom britischen Überfall 1897, Bildern von Objekten, die heute in westlichen Museen und Sammlungen ausgestellt sind. Omonkhua erzählt so spannend wie lehrreich. Die Sammlung ist neu sortiert, das Museum frisch renoviert. Während der Führung läuft das Notaggregat, der Strom ist ausgefallen. Die großen neuen Klimageräte ringen mit der tropischen Hitze um die Lufthoheit.
Im zweiten Geschoss wird eine Ausstellung über Solomon Osagie Alonge (1911 – 1994) gezeigt, einen Fotografen aus Benin-City. Die Ausstellung kam als Geschenk der Smithsonian Institution hierher, nachdem sie in Washington von 2014 bis 2016 gelaufen war. Für Smithsonian war es die erste Ausstellung in Afrika. Anlässlich der Eröffnung traf Oba Ewuare II auch den amerikanischen Botschafter in Nigeria. Trotz aller Dankbarkeit über die Finanzhilfen für die Renovierung des Museums machte der König klar, dass er an den Restitutionsansprüchen festhalte. Auch im Smithsonian befinden sich einige der geraubten Antiquitäten.
„Wir haben hier viel investiert und das Museum wieder auf Vordermann gebracht“, sagt Theophilus Umogbai, Kurator des Nationalmuseums. Dafür sei mit Unterstützung vom Smithsonian ein Benin-Komitee gegründet worden, über das Mäzene und Sponsoren Geld zur Verfügung stellten. Auch der Bundesstaat Edo habe geholfen. „Die Regierung von Nigeria will die geplünderten Objekte zurück“, sagt Umogbai. Die westliche Debatte darüber, wie die Museen in London, New York oder Berlin der Welt gezeigt hätten, dass Afrikaner „nicht auf Bäumen lebten, sondern in der Lage sind, solche tollen Dinge herzustellen“, sei eine einzige Beleidigung. „Wir waren nie primitiv!“
Kurator des Nationalmuseums in Benin-City: Theophilus Umogbai im Gespräch
Den Briten sei es letztlich nur darum gegangen, Handelsstraßen und Marktzugänge zu erobern. Das letzte noch unabhängige Königreich in der Region sollte weg. Umogbai gestikuliert: „Als Museumsmann sollte ich nicht so emotional sein, aber ich kann nicht anders.“ Über das Argument seiner westlichen Kollegen, die Kunstgegenstände könnten im Fall einer Rückgabe in Nigeria nicht richtig präserviert werden, kann der Kurator nur bitter lachen: „Viele dieser Objekte waren mehr als 500 Jahre lang in unserem Besitz, bevor die Briten sie plünderten. Also keine Angst!“ Nur weil einige Kunstgegenstände aus nigerianischen Museen von Kriminellen gestohlen wurden, könne man nicht eine ganze Gesellschaft bestrafen.
Im Dorf Ugbine ist die Gedenkstätte der Kämpfe von 1897. Als der schwarze Geländewagen hält, springen Soldaten und Polizisten aus dem Begleitbus. Sie sichern das Gelände für Osaze Osemwegie-Ero, den Kommissar für Kunst, Kultur, Tourismus und Diaspora-Angelegenheiten des Bundesstaates Edo. „Wir haben viel vor“, sagt er in der flirrenden Mittagshitze. Der Kommissar skizziert Zukunftsvisionen von einem Tourismus-Cluster, in das ein Museum für die Kunst und Kultur Benins ebenso gehört wie Erinnerungsorte für die koloniale Vergangenheit.
Aus der anderen Richtung kam diesen Weg im Januar 1897 eine britische Abordnung unter Generalkonsul James Phillips: neun Briten und 230 afrikanische Träger. Phillips wollte in Benin-City Oba Ovonramwen sprechen. Es war eine Zeit religiöser Zeremonien. Man bat ihn, nicht zu kommen, aber er kam doch. Wo seine Delegation von Kriegern Benins am 4. Januar 1897 aufgerieben wurde, steht heute eine Gedenkstätte. Nur zwei Briten und 20 Träger kehrten zurück, viele weitere Träger wurden verschleppt.
Das „Benin-Massaker“, wie die Briten es nannten, war der Anlass für das Empire, gegen das letzte noch unabhängige Königreich der Region loszuschlagen. Wenige Wochen später waren Elitetruppen aus Kapstadt, Malta und London zusammengezogen. 1200 schwer bewaffnete Royal Marines und afrikanische Begleittruppen sowie mehr als 1400 Träger marschierten in Benin ein. Der Krieg dauerte zehn Tage. Gegen die britischen Waffen hatten die Benin-Krieger, die sich durch magische Kräfte gefeit wähnten, keine Chance. Maxim-Maschinengewehre und Granatwerfer hämmerten Hunderttausende Schuss auf Dörfer, ins Dickicht des Dschungels und auf die Feinde. Die Briten töteten Tausende Benin-Kämpfer, bis sie am 18. Februar 1897 die Hauptstadt einnahmen und etwas später niederbrannten. Für sie war die Invasion ein Erfolg: Sie verloren keine 20 Mann, und der Krieg kostete statt der kalkulierten 50.000 nur 30.000 Pfund. In Großbritannien schwärmte man von der waffentechnischen Überlegenheit und der logistischen Meisterleistung.
Aufstieg und Niedergang des Benin-Königreichs
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Periode der frühen Könige
Aus rund 130 Häuptlingstümern bildet sich das Königreich Benin. Um 1200 kommt mit Oba Eweka I der erste Oba (König) an die Macht.
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Herausbildung von Zünften für Bronzegießer, Elfenbeinschnitzer und andere Handwerke
Baubeginn der „Benin Moats“, eine der weltweit größten Verteidigungsanlagen aus riesigen Wällen und Gräben. Diese Wälle sollen die Stadt Benin und strategischen Reichsgrenzen schützen: Ihre Länge war vergleichbar mit der Chinesischen Mauer. In der Höhe reichten sie bis über 20 Meter.
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Benins „Goldenes Zeitalter“, Expansion des Reiches unter den fünf absolutistischen „Kriegerkönigen“
Die Gesellschaft des Königreichs Benin militarisiert sich („Sparta Westafrikas“). Das Königreich unterwirft zahlreiche Nachbargesellschaften. 1471–1490 steigt es zur stärksten Macht westlich des Niger auf. Erste portugiesische Seefahrer erreichen die Bucht von Benin und Benin City. Ein Botschafter aus Benin wird an den Hof von Lissabon entsandt, es folgt ein starker Ausbau des Handels mit Portugal.
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Portugiesische Missionare taufen den Sohn von Oba Esigie
Benin erobert weitere Küstengebiete und gründet die Stadt Lagos. Die Portugiesen unterstützen Benin mit Waffen und Militärberatung. Während seiner größten Ausdehnung umfasst das Königreich das Gebiet vom heutigen Ghana bis östlich des Flusses Niger.
Ab Mitte 16. Jahrhundert
Auch andere Europäer unterhalten Handelsbeziehungen nach Benin-City. Gehandelt werden u.a. Palmöl, Sklaven, Pfeffer, Elfenbein, Baumwolle, Stoffe, Bast, Waffen, Metalle, Palmwein, Bananen, Orangen, Yams und Korallen. Aus der Bucht von Benin („Sklavenküste“) werden mehr als 1,3 Millionen Sklaven hauptsächlich nach Amerika verschifft (nicht ausschließlich vom Königreich Benin), wichtige Direktabnehmer sind Portugiesen, Briten, Holländer und Franzosen.
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Benin-City ist eine Großstadt mit ca. 50.000 Einwohnern, unterteilt in dutzende administrative Stadtbezirke. Europäische Reisende berichten von großzügigen Straßen, Märkten und Plätzen und vergleichen diese später mit Madrid oder Amsterdam. Benin kann nach Schätzungen holländischer Beobachter zwischen 20.000 bis 100.000 „sehr disziplinierte“ Krieger mobilisieren. Das Erstarken der Gilden, Würden- und Amtsträger schwächt das absolutistische Königssystem. Innere Spannungen und Probleme um die Thronfolge münden Ende des Jahrhunderts in Bürgerkrieg. Zunächst werden viele christlicher Missionare in Land geholt. Ende des Jahrhunderts erfolgt jedoch eine starke Restauration des Ahnenglaubens.
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Die Obas verlieren an Einfluss auf den Außenhandel und das Militär. Oba Akenzua I stellt die Herrschaft der Monarchie wieder her und fördert die Gilden. Benin etabliert sein Königreich weiter als globalen Handelspartner.
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Immer aggressiver kämpfen europäische Kolonialmächte um Gebiete in Afrika (1884/5 Berliner Konferenz). Innere Aufstände und Kriege mit den Nachbarn schwächen das Königshaus. Der ökonomische Abstieg Benins beginnt u.a. durch das Verbot des transatlantischen Sklavenhandels (britisches Parlament 1807); Einbrechen der Exportmärkte für Benin-Stoffe; Rückgang des innerafrikanischen Handels und mündet im Bedeutungsverlust von Benins Häfen.
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Die Briten kolonisieren die Territorien rund um Benin. Ein zentrales Ziel ist die Kontrolle des Handels und der Handelswege. Benin verliert die Stadt Lagos ans British Empire. Außenpolitisch stark unter Druck unterzeichnet Oba Ovonramwen 1892 einen standardisierten Freihandelsvertrag mit den Briten, de jure eine Entmachtung. De facto ignoriert der Oba den Vertrag. 1897 wird eine britische Abordnung von Benin-Kriegern aufgerieben, Großbritannien sendet umgehend eine waffentechnisch stark überlegene Strafexpedition: Benin-City wird geplündert und brennt nieder, ca. 3.500 bis 4.000 Bronzen, Terrakotta, Elfenbein- und Holzschnitzereien werden aus dem Palast geraubt. Oba Ovonramwen, der letzte unabhängige Oba, wird nach Calabar verbannt.
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Souveränitätsverlust und Einverleibung ins „Protektorat Südliches Nigeria“ und ins British Empire. Nach 17 Jahren Interregnum erfolgt 1914 die Inthronisierung von Oba Eweka II und unter ihm die allmähliche Restauration des Königtums, ohne militärische und wirtschaftliche Macht. Der Palast wird wiederaufgebaut und insbesondere die Bronze-Zunft gefördert.
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Weltweit erstarken antikoloniale Bewegungen. 1960 erlangt Nigeria die Unabhängigkeit. Militär- und Zivilregierungen folgen. Die Obas verlieren an politischer Macht, werden jedoch gleichzeitig hofiert wegen ihres nach wie vor starken Einflusses auf auf die Bevölkerung. Sie behalten auch das „letzte Wort“ bei der Bewertung von Gewohnheitsrechten. Unter Oba Akenzua II (1933-1979) und Oba Erediauwa (1979-2016) werden Ansprüche auf die 1897 aus dem Königspalast geraubten (Kunst)Gegenstände lauter. 2016 kommt Oba Ewuara II N´Ogidigan auf den Thron.
Auf dem Kunstmarkt
D ie meisten Bronzen wurden zur Refinanzierung des Kriegs genutzt. Noch heute tauchen Objekte aus Benin auf Auktionen in Paris, London oder New York auf. Über die Jahre stiegen die Preise exorbitant. Im Jahr 2007 zahlte ein privater Bieter bei Sotheby’s 4,7 Millionen Dollar für einen Oba-Kopf aus Bronze. Auch bei Christie’s erzielten Bronzen aus Benin hohe Summen. Was sie so wertvoll macht? „Die besten Bronzen sind von universellem Reiz. Ihre bemerkenswerte Ästhetik und ihre künstlerische Qualität machen sie zu einer der ältesten Säulen der afrikanischen Kunst“, sagt Susan Kloman, bei Christie’s in New York Spezialistin für Kunst aus Afrika und Ozeanien. Schon immer seien diese Antiquitäten auf dem Kunstmarkt begehrt gewesen. Bei den ersten Versteigerungen 1897 in London staunten die Sammler über die Kunstfertigkeit. Die Europäer wollten einfach nicht glauben, dass Afrikaner fähig sind, so etwas herzustellen. Wissenschaftler diskutierten jahrzehntelang darüber, ob der Stil der Bronzen, „von wenigen rein afrikanischen Elementen abgesehen“, nicht eigentlich portugiesischen, deutschen, indischen, chinesischen oder gar japanischen Ursprungs sei. Die akademischen Diskurse steigerten den Marktwert der Platten, Köpfe und Elfenbeinmasken noch. Viele wechselten mehrfach die Besitzer.
Doch das ändert sich langsam. 2011 gaben Erben des britischen Kolonialverwalters Lionel Galway eine Benin-Maske zur Auktion bei Sotheby’s. Gegen den Verkauf wurde protestiert. Plötzlich begann die Presse über das heikle Thema zu recherchieren. Sotheby’s zog die Maske von der Auktion zurück. Zwei Jahre später sorgten zwei Kunstobjekte aus China bei Christie’s für Ärger. „Wir sind einem ehrenhaften Handel mit Antiquitäten verpflichtet“, sagt Christie’s-Spezialistin Kloman. „Dabei sind wir sehr sensibel für die komplexe Moral und die rechtlichen Heraus forderungen beim Verkauf solcher Kunstwerke, die zu einer Zeit erworben wurden, als es noch keine Exportgesetze gab.“ Christie’s arbeite mit der UN-Kulturorganisation Unesco und mit Strafverfolgungsbehörden zusammen. „Das kann auch bedeuten, dass wir Objekte ablehnen“, sagt Kloman.
Auch bei Sotheby’s versichert man, strenge Regeln bei sensiblen Kulturgütern anzuwenden. Man sei das erste Auktionshaus mit Compliance-Programm gewesen und habe für solche Fälle strikte Richtlinien. Bevor etwas versteigert werde, untersuchten Fachleute des Hauses die Herkunft. Jedes Stück, das angeboten werde, gleiche man mit Datenbanken für gestohlene Kulturgüter ab. In diesen Datenbanken tauchen Benin-Bronzen aber gar nicht auf. Denn sie sind noch nicht als gestohlene Kulturgüter anerkannt. Christopher Marinello wird auch der „Robin Hood der Kunst“ genannt. Der 55 Jahre alte Anwalt hat in aller Welt Raubkunst im Wert von 500 Millionen Euro aufgespürt und dafür gesorgt, dass ihre rechtmäßigen Besitzer sie zurückbekommen oder man sich finanziell einigt. Marinello, dessen Firma Art Recovery International Dependancen in Mailand, London und New York hat, zählt auf, was er in privaten Sammlungen, auf dem Kunstmarkt und in Museen aufgespürt hat: Bilder von Matisse, Degas, Picasso, Crivelli, Duccio; Uhren, Münzen, Waffen; einen raren Bentley. Manchmal waren dafür Undercover-Methoden nötig, manchmal arbeitete er mit der Polizei zusammen.
Den Benin-Fall kennt Marinello gut. „Stellen Sie sich nur einmal vor, wo dieser Teil Afrikas heute sein könnte, ohne die kulturelle Vergewaltigung, die dieser Zivilisation angetan wurde.“ Die Benin-Objekte seien auf grausame Weise geraubt worden. Für eine Rückgabe seien die Chancen heute allerdings so groß wie nie. Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte im November 2017 vor Studenten in Burkina Faso, sich persönlich dafür einsetzen zu wollen, afrikanische Raubkunst zu repatriieren. „Das ist eine Zeitenwende“, sagt Marinello.
Der Kunstdetektiv kennt sich zwar aus in der komplizierten internationalen Gesetzeslandschaft, bevorzugt aber einen anderen Lösungsansatz. Er verweist auf die Washingtoner Erklärung von 1998. Sie sei zwar rechtlich nicht bindend und für die Raubkunst der Nationalsozialisten formuliert. Aber an die Prinzipien könne man sich auch im Fall der Benin-Plünderungen halten: Archive zugänglich machen, geraubte Gegenstände identifizieren, ein zentrales Register zur Erfassung von Raub- und Beutekunst aufbauen und eine Vermittlungsstelle einrichten. Mediation ist seine bevorzugte Methode. Die beteiligten Parteien sollten eine formelle Schlichtung in Erwägung ziehen. „Die besten Köpfe im Kulturerbe-Feld könnten eine gütliche Lösung finden. Dann wäre dieses schreckliche Unrecht endlich getilgt.“
Wenn es so einfach ist: Warum hat sich dann bisher so wenig bewegt? „Zu reden ist billig“, sagt Marinello. Immerhin sieht er die Benin-Dialog-Gruppe als den Beginn einer Debatte. „Aber die Geschichtsbücher erzählen uns noch immer nicht die Wahrheit. Kaum jemand kennt die Verbrechen.“ Deshalb empfiehlt er dem König von Benin, die Geschichte jedem zu erzählen: „Helfen Sie dem Westen zu verstehen, wie der Kolonialismus ihre Kultur zerschunden hat. Vielleicht springen ja Steven Spielberg, George Clooney oder Angelina Jolie mit einem Film bei.“
Die Diskussionen über die Korruption und die Sicherheitslage in Nigeria hält Marinello für einen alten Trick mit rassistischem Unterton. „In Nigeria gibt es nicht mehr und nicht weniger Museumsdiebstähle als in anderen Ländern auch.“ Das British Museum habe in der Debatte über die Rückgabe der Marmorskulpturen und -fragmente der Akropolis ähnlich argumentiert. Daraufhin baute Griechenland, wie verlangt, ein erstklassiges Gebäude für die Kunstschätze. Aber die griechischen Skulpturen stehen noch heute in London.
Rückgabeforderung
D ie Spur der Bronzen führt auch in eine Stadt, die wie aus einem Märchenbuch gefallen scheint, mit mittelalterlichen Zinnen, verwinkelten Aufgängen und gotischen Säulenhallen. Das Jesus College, im Jahr 1496 gegründet, ist ein Teil der Universität Cambridge. Kaum einer der vielen Studenten, die in den vergangenen Jahrzehnten in der holzvertäfelten Dining Hall speisten, dürfte gewusst haben, dass der Bronze-Hahn auf einem Sockel am Eingang des Saals aus den Benin-Plünderungen stammte.
Mit diesem Unwissen hatte es 2016 ein Ende. Studenten, unter anderem mit nigerianischem und ghanaischem Hintergrund, organisierten eine Kampagne zur Rückgabe des Hahns an das Königshaus in Benin-City. Nach emotionaler Debatte votierte die Mehrheit der College-Studenten dafür, dass der Okhokho-Hahn zurückgegeben werden solle. Daraufhin entfernte die College-Leitung den Hahn.
Damit war die Debatte aber noch nicht zu Ende. Die „Times“ veröffentlichte im März 2016 das Schreiben eines wohlhabenden College-Alumni, der verlangte, den Hahn wieder aufzustellen – sonst werde er das College aus seinem Testament streichen. Die College-Leitung habe auf die Forderungen von „albernen Studenten“ zu „nachlässig“ reagiert. Dagegen müsse das „Old-boy-Netzwerk“ etwas tun.
Das College beriet sich mit Fachleuten, und im April 2017 traf sich die Benin-Dialog-Gruppe in der Universitätsstadt. Aus Nigeria reisten Prinz George Akenzua und Yusuf Abdallah Usman an, der damalige Direktor der nigerianischen Museumsbehörde. Das Treffen hinterließ bei vielen Studenten einen faden Beigeschmack. Der Prinz habe zwar die Rückführungsansprüche bekräftigen können. Aber der Empfang der nigerianischen Delegation sei äußerst bescheiden gewesen. Und in der Expertenrunde war von Rückgabe keine Rede mehr, sondern nur noch von Leihgaben.
Im Hinterhaus des College-Gebäudes an der Mill Lane hat die Studentenzeitung „Varsity“ ihre Räume. Ein paar Tische, ein paar Computer, Archivregale – und eine blonde Perücke, die aufziehen muss, wer Grammatikfehler macht. Etwa 60 Studenten arbeiten für die Zeitung, die während der Vorlesungszeit wöchentlich erscheint. „Varsity“ druckte ein halbes Dutzend große Artikel über die Benin-Geschichte. Louis Ashworth, ein 23 Jahre alter Englisch-Student, Redakteur für Sonderaufgaben, hat einige davon geschrieben. „Wir wissen nicht, wo der Hahn jetzt ist“, sagt er. „Er ist irgendwo weggeschlossen. Die Leitung schweigt. Das wird alles in Hinterzimmern besprochen.“
Die College-Leitung setze vielleicht darauf, dass die Studentenschaft ein kurzes Gedächtnis habe, weil die meisten Studenten ohnehin nur einige Semester blieben. „Aber es handelt sich um einen tiefgreifenden Umbruch“, sagt Ashworth. In Cambridge werde gerade über die „Dekolonialisierung des Lehrplans“ diskutiert. Und den Studenten sei es nicht mehr egal, wenn eine solche Figur afrikanische Kommilitonen schmerze, zumal Studenten heute nicht politikverdrossen seien, sondern sich engagierten. In einem „Varsity“-Kommentar heißt es: „Die Benin-Bronzen kann man nur noch als Symbol des historischen Hooliganismus Großbritanniens und des Leids Nigerias betrachten.“
So beherzt gehen nicht alle im Vereinigten Königreich mit dem Thema um. Ein Interview mit dem Direktor des British Museum über die größte Benin-Bronzen-Sammlung der Welt ist leider nicht möglich. Nach der ersten Anfrage geht es monatelang hin und her. Schließlich teilt die Sprecherin des Museums mit, der Direktor setze zur Zeit andere Prioritäten. Es bleibt also unklar, was das British Museum damit meint, dass britische Soldaten die Benin-Bronzen „halbverschüttet in einem Lagerhaus entdeckten“.
AUF DER SPUR DER RAUBKUNST
An der Recherchekooperation über den Benin-Kunstschatz arbeitete ein Team von nigerianischen und deutschen Journalisten in Europa, Afrika und den Vereinigten Staaten. In diesen Tagen erscheinen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und auf FAZ.NET weitere Beiträge zum globalen Handel mit afrikanischen Kunstgütern und den Wegen von Benin-Bronzen in westliche Museen. Die Recherchen, die monatelang dauerten, wurden unterstützt vom Journalistenverein „Fleiß und Mut“ und dessen „Kartographen-Mercator-Stipendienprogramm“. Weitere Projektpartner sind die panafrikanische Organisation Code for Africa sowie die Leipziger Volkszeitung. Recherchemitarbeit in Nigeria: Eromo Egbejule, John Eromosele, Emmanuel Ikhenebome
Kamera: Eromo Egbejule, Lutz Mükke, Maria Wiesner
Videoschnitt: Kathrin Jakob
FAZ.NET-Multimedia: Jens Giesel, Carsten Feig
Quelle: F.A.Z. Magazin
Veröffentlicht: 15.01.2018 12:17 Uhr
