Prozess gegen Arzt : „Die Dauer der Krankschreibung durfte ich mir aussuchen“
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Viele Patienten soll Anton R. schon am Empfangstresen abgefertigt haben. Bild: dpa
Ein Berliner Arzt muss sich verantworten, weil er Schülern ohne Untersuchung Atteste ausgestellt haben soll. Unter Jugendlichen sei er für seine schnelle Krankschreibungen bekannt gewesen. Der Arzt bestreitet das.
Dem Arzt auf der Anklagebank ist seine Wut deutlich anzumerken. „Ich bin der Meinung, dass ich immer korrekt untersucht habe“, sagt Anton R. und kurz darauf, mit hörbarer Erregung in der Stimme: „Jeder Allgemeinmediziner und jeder Psychotherapeut hätte diese Schüler krankgeschrieben. Es ist eine Sauerei, dass ich hier sitze.“
Darüber allerdings muss das Amtsgericht Tiergarten nun befinden. Anton R. wird vorgeworfen, zwischen Januar 2014 und Januar 2016 Schüler und Auszubildende ohne vorherige Untersuchung krankgeschrieben zu haben. 25 Minuten braucht die Staatsanwältin am Mittwoch für die Verlesung der Anklage, weil es in 176 Fällen bürokratisch heißt „Der/Die Patient/in kann nicht am Schulunterricht teilnehmen“ oder weil eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt wurde.
Manche Patienten kamen nur wenige Male, bei anderen sind 30 Atteste aufgelistet, manchmal im Abstand von wenigen Tagen, in anderen Fällen über Monate hinweg. Der Arzt habe die Bescheinigungen erteilt, „ohne dass die jeweiligen Patienten untersucht oder Nachfragen zum Gesundheitszustand“ gestellt worden seien, ist die Staatsanwaltschaft überzeugt. Dabei sei ihm bewusst gewesen, dass auf diese Weise Fehlzeiten in der Schule oder bei den Ausbildungsträgern entschuldigt werden sollten.
Unklar wieso die Vorwürfe erst jetzt verhandelt werden
Anton R., ein schwerfälliger Mann in Cordhose und Dufflecoat, ist promovierter Mediziner und inzwischen 74 Jahre alt. Seine Praxis im Bezirk Tiergarten betreibt er noch immer. Warum die Vorwürfe erst jetzt zur Verhandlung kommen, bleibt zum Prozessauftakt am Mittwoch unklar.
Die Patienten von damals, die jetzt als Zeugen geladen sind, haben selbst schon Strafverfahren wegen des Gebrauchs unrichtiger Gesundheitszeugnisse hinter sich. Einige beteuern, sie seien tatsächlich krank gewesen, wenn sie sich bei Dr. R. ein Attest geholt hätten. Andere bestätigen die Vorwürfe. „In über 50 Prozent der Fälle war ich nicht krank“, sagt ein 24 Jahre alter Mann. Er habe seinerzeit eine Maßnahme des Arbeitsamtes absolviert und sei dort so gemobbt worden, dass er nicht zur Arbeit habe gehen wollen. Dem Arzt und Psychotherapeuten habe er davon aber nichts erzählt – aus Scham. Stattdessen habe er von „Magenproblemen“ gesprochen. Körperlich untersucht worden sei er jedoch nie. Ein 27 Jahre alter Mann gibt zu, er habe „manchmal keine Lust gehabt“, zur Schule zu gehen. „Ich war halt jung.“
Wie aus den Schilderungen der Zeugen hervorgeht, pflegte der Arzt seine Patienten direkt am Empfangstresen persönlich abzufertigen. Manche berichten von einer Warteschlange, alle sagen, man sei im Vergleich zu anderen Ärzten schnell drangekommen – und schnell wieder draußen gewesen. Dr. R. habe lediglich nach Beschwerden gefragt und dann wissen wollen, für welche Dauer das Attest ausgestellt werden sollte. „Das durfte ich mir aussuchen“, sagt ein junger Mann. Offenbar hatte die Praxis von Dr. R. einen einschlägigen Ruf. „Man hatte schon gehört, dass man ohne große Untersuchungen krankgeschrieben werden konnte“, sagt ein Mittzwanziger, der inzwischen in der IT-Branche arbeitet. „Das war damals allgemein in Jugendkreisen bekannt.“ Der Prozess wird fortgesetzt.