Affäre Outreau : Zu Unrecht beschuldigt
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Im Gericht von Saint Omer: Aktenberge für einen geplatzten Prozeß Bild: AP
Spektakuläre Wende in französischem Pädophilen-Prozeß: 13 von 17 Angeklagten wurden zu Unrecht angeklagt. Nach drei Jahren in der Untersuchungshaft ist ihr Leben trotz eines Freispruchts zerstört.
Im nordfranzösischen Outreau ist einer der bedeutendsten französischen Prozesse wegen Pädophilie überraschend geplatzt, nachdem die Hauptbelastungszeugin am elften Verhandlungstag unerwartet Falschaussagen eingestanden hatte und 13 der 17 Angeklagten von allen Vorwürfen freisprach. Einige der zu Unrecht Beschuldigten befanden sich seit drei Jahren in Untersuchungshaft und sehen sich selbst im Falle eines Freispruchs vor den Trümmern ihrer beruflichen Existenz und ihres Privatlebens. Die überraschende Wende rief im Gerichtssaal tumultuarische Szenen hervor. Einige der Entlasteten brachen in Tränen zusammen. Zuhörer im Gericht riefen: "Verfaulte Justiz", "Skandal" und "Es gibt keine Gerechtigkeit mehr".
Nach der Wende des Verfahrens stellt sich nun die Frage, ob die Ermittlungsbehörden fahrlässig ermittelt haben. Die aufsehenerregende "Affäre Outreau" begann im Herbst 2000, als der damals acht Jahre alte Dimitri Delay, der zu diesem Zeitpunkt von seinen gewalttätigen Eltern bereits getrennt lebte, von sexuellen Mißhandlungen durch seine Mutter und seinen Vater zu erzählen begann. Dimitris drei Brüder bestätigten mehr oder weniger diese Aussage. In einem weiteren Schritt nannte Dimitri Namen von Nachbarn und Bekannten seiner Eltern, die sich an Sexpartys beteiligt haben sollen, während der mehrere Kinder mißbraucht wurden.
Zweifel schon zu Beginn des Verfahrens
Die Justiz leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen 19 Erwachsene ein. Während die Mutter Dimitris, Myriam Delay, und eine Freundin ihre Beteiligung an sexuellen Mißbräuchen zugaben, wiesen die meisten Beschuldigten alle Vorwürfe von sich. Schließlich wurden alle 19 Personen angeklagt. Ein Beschuldigter starb in der Untersuchungshaft, während ein weiterer Angeklagter als verhandlungsunfähig eingestuft wurde. Als der Prozeß vor zwei Wochen in Outreau begann, saßen daher nur noch siebzehn Angeklagte vor ihren Richtern.
Schon zu Beginn des Verfahrens wurden Zweifel an der Anklage gegen alle Beschuldigten deutlich. Myriam Delay und ihre Freundin belasteten zwar hartnäckig ihre Nachbarn und Bekannten, doch lagen keinerlei materielle Beweise für deren Beteiligung an Mißbräuchen vor. Dennoch hatten ihre Anwälte einen schweren Stand, da mehrere Psychologen und Psychiater die Aussagen der Kinder und der beiden Frauen als glaubwürdig bezeichneten. Allerdings wurde während des Verfahrens deutlich, daß die Kinder, deren Aussagen zum Teil äußerst vage waren, mehrere ihrer angeblichen Peiniger gar nicht kannten.
Justizminister verspricht Entschädigung
Schließlich brach Myriam Delay zusammen. "Ich bin krank und eine Lügnerin", erzählte sie dem erstaunten Gericht. Dreizehn Angeklagte seien völlig unschuldig. Nach diesem Ausbruch gestand auch ihre Freundin, gelogen zu haben: "Nun gut, ich habe die anderen Personen beschuldigt, weil mir Myriam ihre Namen genannt hatte. Ich habe es ihr zuliebe getan. Ich weiß, daß dies nicht richtig war." In diesem Moment, als der spektakuläre Prozeß zusammenzubrechen begann, erwies sich der Vorsitzende Richter als ein Bürokrat. Da es bereits nach 19 Uhr war, wollte er die Sitzung beenden, obgleich die Anwälte der Beschuldigten erregt forderten, mit der Befragung der beiden Frauen fortzufahren, um die gesamte Wahrheit zu erfahren. Doch mit dem Hinweis, einige der Geschworenen müßten noch zum Bahnhof, schloß der Richter die Verhandlung: "Morgen ist auch noch ein Tag." Vermutlich wollte der Richter Zeit gewinnen, um die jüngsten Ereignisse zu überdenken. Die Erwartung der zu Unrecht Beschuldigten, nun aus der Untersuchungshaft freizukommen und ihre Kinder zurückzuerhalten, wurde enttäuscht: Obwohl selbst die Staatsanwaltschaft keine Einwände hatte, ordnete der Richter die Fortsetzung der Haft an. Nur eine Frau, die im Gefängnis haßerfüllten Angriffen von Mithäftlingen ausgesetzt war, wurde auf freien Fuß gesetzt.
Ein Anwalt eines zu Unrecht Beschuldigten äußerte nach Ende der Sitzung erregt: "Wir haben immer gewußt, daß Myriam Delay geistesgestört ist. Aber niemand wollte uns ernst nehmen." Die überraschende Wende des Prozesses rief in Frankreich Empörung und Zweifel am Funktionieren der Justiz hervor. Justizminister Dominique Perben versprach, nach Ende der Verfahren alle zu Unrecht Inhaftierten zu entschädigen. Nach dem jetzt herrschenden Kenntnisstand wurden die Kinder offenbar lediglich von Myriam Delay, ihrer Freundin und den beiden Lebensgefährten mißbraucht. Dreizehn Personen wurden, wie es scheint, ohne Grund der Pädophilie beschuldigt. Auf die Frage, warum sie die Nachbarn zu Unrecht beschuldigt habe, sagte die angeklagte Mutter: "Ich wollte nicht, daß meine Kinder als Lügner dastehen." Die Anwälte der Entlasteten äußerten dagegen die Vermutung, die Kinder seien von ihren Eltern zu unberechtigten Anschuldigungen verleitet worden, um die Last der Anklage zu verteilen.