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Krimi-Autor Volker Kutscher : Moment mal, war das wirklich so?

Geschichte hat ihm schon in der Schule Spaß gemacht: Autor Kutscher im Eingang des Berliner Hauses Bild: Gyarmaty, Jens

Seine Bestsellerkrimis hat Volker Kutscher im Berlin der Dreißiger angesiedelt: spannend und stets nah an der Historie. Ein Streifzug auf den Spuren seines Helden Gereon Rath.

          6 Min.

          Früher war mehr Wiese. Weniger Straße. Und garantiert keine Parkraumbewirtschaftung. „Man muss sich die ganzen Autos wegdenken“, sagt Volker Kutscher, als er am Steinplatz in Berlin-Charlottenburg auf den herrschaftlichen Gründerzeitbau mit der Nummer 3 zusteuert. Eine unscheinbare Gedenktafel neben dem Eingangsportal verkündet, dass hier der langjährige Polizeivizepräsident Bernhard Weiß gewohnt hat, bevor er vor den Nazis ins Ausland flüchten musste. Weißer Stein vor weißer Wand.

          Julia Schaaf
          Redakteurin im Ressort „Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

          Was sich auf diesem Platz abgespielt haben mag, kann man in Kutschers neuem Krimi nachlesen. 5.März 1933, der Abend des Wahlsonntags, der die Nazis zur stärksten Partei im Reichstag machte: Während eine Kette von Polizisten in blauen Uniformen das Gebäude bewacht, sammeln sich auf der Grünfläche mehr und mehr SA-Männer. Kutscher beschreibt, „wie der braune Mob nach vorne wogte“, bis ein Polizeioffizier den Arm hebt und die Kette der Schupos sich teilt. Ungehindert stürmen die Braunhemden ins Treppenhaus.

          „Warum unternehmen Sie denn nichts?“, lässt Kutscher eine empörte Passantin fragen, woraufhin ein Schupo antwortet: „Was sollen wir denn tun? Haben Sie mal gezählt, wie viele das sind? Das war nur vernünftig, dass der Einsatzleiter den Rückzug befohlen hat. Wir hätten die Stellung keine fünf Minuten mehr halten können. Und dann hätte es Tote gegeben.“

          Tom Tykwer hat sich die Rechte für eine Fernsehserie gesichert

          Nicht dass diese Szene für den weiteren Verlauf der Handlung von „Märzgefallene“ große Bedeutung hätte. Aber sie erzählt eine Menge über die machtpolitischen Verschiebungen in diesem unheilvollen Frühjahr 1933 und macht klar, warum Kutschers historische Krimis spätestens jetzt, mit dem fünften Band um Kommissar Gereon Rath, ein Glücksfall sind. Denn während man sich in einen Feierabendschmöker vertieft in einer behaglichen Gegenwart, die von Parkscheinen, Gedenktafeln und einer kollektiven Leidenschaft für Krimis geprägt ist, bekommt man beiläufig etwas mit, das der Geschichtsunterricht selten vermittelt hat, ganz gleich, wie oft die NS-Zeit auf dem Lehrplan stand: ein Gefühl dafür, wie sich die Machtergreifung im Alltag vollzog und auf das Denken und Reden der Menschen auswirkte.

          „Es ist wirklich ein besonderes Buch“, sagt Volker Kutscher und klingt selbst ein wenig überrascht. Wir haben uns zu einem Streifzug durch Berlin verabredet, unterwegs auf den Spuren seines eher mäßig sympathischen Kommissars, an dessen Fällen sich Regisseur Tom Tykwer mit seiner Firma X-Filme die Rechte gesichert hat. „Babylon Berlin“ soll eine Fernsehserie werden, die sich mit internationalen Produktionen messen kann. Um das nötige Budget zu stemmen, haben sich für die erste Staffel ARD und Sky Deutschland zusammengetan. Drehbeginn soll Mitte 2015 sein.

          Politik war maximal Kulisse

          Kutscher, Anfang fünfzig, ein lässiges Retrohemd unter dem dünnen Mantel, ist Rheinländer wie seine Romanfigur, ein heiterer, unprätentiöser Typ. Er redet gern und das – insbesondere, wenn es um Geschichte geht – schnell und viel. Vier Bestseller hat dieser Mann geschrieben, seit er 2004 seinen Redakteursvertrag kündigte, um Zeit für eine, wie er fand, geniale Idee zu haben. Vorher hatte er bei einem kleinen Verlag zwei Regionalkrimis veröffentlicht; die Vorstellung, bis zur Rente in seiner Heimatstadt Wipperfürth die Lokalzeitung zu verkörpern, hatte angefangen ihn zu langweilen.

          Der Plan: zwei Welten zu verweben, die ihn persönlich faszinierten, das moderne Berlin der späten Weimarer Republik, wie es unter anderen Erich Kästner und Alfred Döblin beschrieben hatten, mit dem amerikanischen Gangstermythos der dreißiger Jahre. Und das als Serie, 1929 bis 1936, ein Buch für jedes Jahr. Die Verlage waren skeptisch. Zwei Jahre musste Kutscher warten, er fürchtete schon, er müsse auf das Angebot seiner Frau zurückkommen, dass sie Vollzeit arbeite, während er sich als Hausmann versuche. „Ich bin nicht so gut im Haushalt“, sagt der Autor und grinst. Dann kam der Erfolg.

          Nun spielte die Historie in den ersten Bänden nur eine untergeordnete Rolle. Während man also der spannenden, durchaus komplexen Handlung folgte, durfte man sich an der Weltläufigkeit Berlins ergötzen, an Jazzmusik, eleganten, rauchenden Frauen, einem blühenden Nachtleben und ziemlich viel Whiskey. Man konnte auf historischen Stadtplänen im Internet alte Straßennamen suchen oder lernen, dass die prägende Rolle des Pathologen im Krimi offenbar keine Erfindung des „Tatort“ ist. Politik war maximal Kulisse.

          Der „Buddha“ von der Mordkommission

          Im ausgehenden Winter 1933, in dem unter der Hochbahn am Nollendorfplatz ein ermordeter Weltkriegsveteran gefunden wird, ist das naturgemäß anders. Während Kommissar Rath für die Ermittlungen in seinem Buick von Berlin ins Rheinland fährt, sieht er schon an den gehissten Hakenkreuzflaggen, wie die Stimmung im Land zugunsten der neuen Machthaber kippt. Er muss sich verhalten, wenn seine neuen Vorgesetzten im Polizeipräsidium den Hitlergruß einführen. Und er wird aus der Mordkommission abkommandiert, um bei der Politischen Polizei den ganzen Wahlsonntag lang Kommunisten zu verhören, die so an der Stimmabgabe gehindert werden sollen.

          Moment mal, fragt man sich beim Lesen: War das wirklich so?

          „Das habe ich mir ausgedacht“, sagt Kutscher über diese hinzuersonnene Strategie nationalsozialistischer Kommunistenhatz. Er lacht fröhlich. „Ich bin Romancier. Ich darf so was.“

          Wir schlendern durch die Polizeihistorische Sammlung. Hier hat sich der Autor Inspirationen besorgt. Er hat alte Telefone fotografiert, Büroutensilien, Waffen und Patronenschachteln. An der Wand hängt ein überlebensgroßes Porträt von Ernst Gennat, der in den zwanziger Jahren die Berliner Mordkommission aufbaute, moderne kriminalistische Methoden einführte und nicht nur wegen seiner schon damals legendären Kuchensucht und Leibesfülle „Buddha“ genannt wurde. „Das ist einfach ’ne Type. Besser kannst du ihn auch nicht erfinden“, sagt Kutscher.

          „Man darf sich von der Recherche nicht einengen lassen“

          In vielerlei Hinsicht sind Kutschers Bücher historisch genauer, als man das von einem Roman erwartet. Die Abteilungsleiter im Polizeipräsidium lassen sich alle bei Wikipedia finden. Viele Beschreibungen basieren auf alten Fotos. Der Sprache und den Denkweisen seiner Figuren hat Kutscher sich genähert, indem er nicht nur Literatur von damals, sondern ausgiebig historische Tageszeitungen gelesen hat. Über die politischen Ereignisse jener Jahre spricht der Autor ohnehin mit einer Selbstverständlichkeit, als erzähle er von seinem jüngsten Urlaub.

          Trotzdem legt Kutscher Wert darauf, dass seine Bücher nicht als Grundlage für den Schulunterricht taugen. Für die brutalste Szene in seinem neuen Buch zum Beispiel, die in den Folterkellern der SA spielt, hat er sich von einem Bericht über englische Hooligans inspirieren lassen. Ein kriminalistisches Experiment mit Taubendreck, um den Todeszeitpunkt des Opfers vom Nollendorfplatz zu bestimmen, ist völlig frei erfunden. Kutscher sagt: „Man darf sich von der Recherche nicht einengen lassen. Bei mir kann man eigentlich nicht sagen, was fiktiv ist und was historisch.“ Literatur und Geschichte, kongenial verquickt.

          Damit ist Kutscher einer dieser Menschen, deren Biographie erst in der Rückschau aussieht, als habe es einen Masterplan gegeben, während das Leben selbst über Jahre hinweg eher wie eine Aneinanderreihung von Zufällen aussah. Der Sohn eines Stahlarbeiters und einer Verwaltungsangestellten war mit zwei jüngeren Schwestern in einer Kleinstadt im Bergischen Land aufgewachsen. Im Zuge der sozialdemokratischen Bildungsexpansion der siebziger Jahre schaffte er es als Erster aus seiner Familie an die Universität. Aus einem Studentenjob als freier Mitarbeiter bei der „Kölnischen Rundschau“ wurde ein Volontariat und schließlich die Stelle als Lokalredakteur in Wipperfürth.

          Geschichten à la Agatha Christie hasst er

          Wenn der Autor von seiner Studienwahl erzählt, bezeichnet er sich als naiv und wirkt ein bisschen wie ein junger Mann, der sich vor streng blickenden Verwandten rechtfertigt, weil sich mit seiner Fächerkombination kein ordentlicher Beruf verbindet: Germanistik und – im Nebenfach – Geschichte. Hatte ihm halt schon in der Schule Spaß gemacht. Einmal, erzählt Kutscher, habe der Vater einer Freundin ihn sich bei der ersten Begegnung zur Brust genommen und gefragt: „Was wollen Sie denn damit werden?“ Der junge Kutscher antwortete, mehr frech als vorausschauend: „Reich und berühmt.“

          Kutscher lacht. Dann wird er nachdenklich. „Das ist ein großes Geschenk“, sagt er über seinen Erfolg. Und zum ersten Mal an diesem Vormittag entsteht eine lange Pause im Gespräch.

          Wir haben den Tauben am Nollendorfplatz einen Besuch abgestattet und sind an der General-Pape-Straße an den ehemaligen Eisenbahnerkasernen vorbeigefahren, in denen die SA ihre Gegner gefoltert hat. Kutscher hat erzählt, dass er betuliche „cosy crime“-Geschichten à la Agatha Christie hasse und seinen Lesern lieber gewisse Grausamkeiten zumute: „Tod ist nicht lustig“, hat er gesagt; auch das Leben habe mitunter seine Härten. Inzwischen sitzen wir um die Ecke vom Steinplatz in einem Café an der Carmerstraße, also dort, wo Kutscher seinen Kommissar wohnen lässt in einem modernen Gebäude mit Aufzug. Kutscher zeigt auf einen Neubau. Das Haus aus dem Roman, das es in echt nie gab, könnte einst dort gestanden haben. Wie immer gilt nach dem Prinzip Kutscher: Hauptsache, die Fiktion ist historisch plausibel.

          Deutschland hätte eine bessere Zukunft verdient gehabt

          Wir reden über Privates. Kutscher erzählt von seiner Frau und der 14 Jahre alten Tochter und davon, dass er ähnlich wie sein Kommissar Konflikten lieber aus dem Weg gehe. Die Familie lebt in einem Vorort von Köln, Kutscher arbeitet zu Hause. Wenn er einen Ausgleich braucht, schwingt er sich aufs Fahrrad und fährt in den Wald. Oder er macht Musik. In der Rockband The Contrelles, einer Clique alter Freunde, spielt der Autor Bass. Wenn Kutscher erzählt, kommt er vom Hölzchen aufs Stöckchen und verliert sich in Details. Wenn es ihm auffällt, lacht er über sich selbst.

          Schon sind wir wieder bei Gereon Rath und seiner Epoche. „Ich mag diese Zeit einfach“, sagt Kutscher. „Ich mag die Mode, die Musik und die Autos.“ Er wird ernst: „Ich finde immer, dass man der Weimarer Republik Unrecht tut, wenn man sagt, dass sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.“

          Nicht dass Kutscher mit seinen Büchern eine politische Mission verbinden würde. Aber er ist überzeugt, das Deutschland jener Zeit hätte eine bessere Zukunft verdient gehabt. Die wahren Helden seiner Krimis sind Demokraten, wie Polizeivizepräsident Weiß einer war. Kutscher sagt, es habe ihm förmlich weh getan, zu dokumentieren, wie die Macht der Nazis wuchs und wuchs. „Ich find’s so tragisch“, sagt er. „Aber ich bin kein Tarantino. Ich kann die Geschichte nicht umschreiben.“ Für die Leser ist das ein Gewinn.

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