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Belästigung in Kitas : Übergriff oder Spiel?

Ein Ort der Unschuld? Wie kommt es zu den sexuellen Übergriffen in den Kitas? Bild: dpa

Kinder sollen sich in Kitas in Mainz und Wiesbaden gegenseitig sexuell belästigt haben. Nimmt diese Art des Missbrauchs zu? Oder ist die Gesellschaft sensibler gewonnen?

          3 Min.

          Das erste Mal hatte Frau W. den Verdacht, dass jemand ihre Tochter sexuell belästigt haben könnte, als sie der Dreieinhalbjährigen abends vor dem Schlafengehen eine Windel anzog. „Vorsichtig sein, meine Mumu tut weh“, sagte das Kind, und Frau W. fragte: „Warum?“ „Weil die Feuerwehrleute in der Kita da mit der Schüppe draufhauen“, antwortete die Kleine. Frau W. wandte sich an die Kita, aber „wir sind auf taube Ohren gestoßen“, erinnert sie sich. Allerdings machte W.s Tochter in den folgenden Tagen immer wieder Bemerkungen, die ihre Mutter beunruhigten. „Beim Umziehen sagte sie plötzlich: ,Mama, jetzt musst du mir auf die Mumu hauen.“ Das sei lustig, sage ein Junge in der Kita. Der berühre auch manchmal ihre Mumu. „Sie hat mir dann vorgemacht, wie er das macht, da ist mir schlecht geworden“, erzählt W.

          Katrin Hummel
          Redakteurin im Ressort „Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

          Fünf ältere Jungen hätten bis zu sieben jüngere Kinder sexuell belästigt, werfen Frau W. und eine andere Mutter der evangelischen Kindertagesstätte in Wiesbaden-Igstadt vor. Die Kita-Leitung habe versucht, die von ihnen gemeldeten Vorfälle zu „vertuschen“ und „auf Zeit zu spielen“, so W. Erst als sie den Träger der Einrichtung, das zuständige Dekanat der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, informiert hätten, habe es mit der Landeskirche „ein gutes Gespräch“ gegeben. Aber vor zwei Wochen sei wieder ein Mädchen auf die Genitalien geschlagen worden, erzählt W., die ihre Tochter schon vor Wochen von der Kita abgemeldet hat. Deswegen habe sie jetzt kein Vertrauen mehr in die Einrichtung.

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          Die evangelische Kirche hat aufgrund der Vorfälle die Leitung der Kita suspendiert und den Betreuungsplatz eines Jungen, der in viele der Handlungen verwickelt gewesen sein soll, gekündigt. Er besucht inzwischen eine städtische Kita. Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden will demnächst entscheiden, ob die Erzieherinnen ihre Aufsichtspflicht verletzt haben könnten. Die Kirche hat einen Psychologen hinzugezogen und gibt sich betroffen. Pressesprecher Volker Rahn sagt: „Es hat Vorfälle gegeben, die man als schwer sexualisiertes Verhalten bezeichnen muss, und das tut uns sehr leid, es ist absolut nicht akzeptabel.“

          Man wisse „von runtergezogenen Hosen und von Jungs, die Mädchen auf Genitalien und Po geschlagen haben“. Aber ob das auch strafrechtlich relevant sei oder ob es sich lediglich um „aus dem Ruder gelaufene Spiele“ handele, sei noch nicht klar. Rahn bedauert, „dass eine der betroffenen Familien den Kontakt zu uns abgebrochen hat, wir können uns das nicht erklären. Wir haben eigentlich alles getan, um die Vorfälle aufzuarbeiten, und die Kriminalpolizei ermittelt auch.“

          Studien legen nahe, dass die Zahl der Übergriffe sinken

          Die Polizei verzeichnet tatsächlich seit Jahren eine Zunahme bei den Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs. Es gebe eine enorme Zunahme gerade bei den minderjährigen Tatverdächtigen, sagt Andrej König, Vertretungsprofessor für Forensische Psychologie an der Fachhochschule Dortmund und Autor der von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Studie „Sexuelle Übergriffe durch Kinder und Jugendliche“. Die Zahl der Verdächtigen unter 14 Jahren ist laut Bundeskriminalamt zwischen 2000 und 2014 um mehr als 50 Prozent gestiegen und liegt heute bei 25 Anzeigen pro 100.000 Kinder.

          Das bedeutet laut König allerdings nicht, dass Kinder nun tatsächlich häufiger als früher andere Kinder missbrauchen. Dagegen spreche, dass man in Dunkelfeldstudien, also bei anonymen Befragungen von Menschen per Telefon oder mit Hilfe von Fragebögen, sogar einen Rückgang von Fällen beobachte, so der Forensiker. Allerdings gebe es in Deutschland nur eine einzige Dunkelfeldstudie zu dem Thema. In Amerika hingegen gebe es zahlreiche, auch mit sehr vielen Teilnehmern, und in allen sei die Zahl der Täter gesunken. „Ich glaube“, sagt König, „dass mit dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche ein geschärftes gesellschaftliches Bewusstsein entstanden ist, was sexuelle Gewalt angeht, und dass sich das zum Teil auch in einer steigenden Anzeigebereitschaft der Bevölkerung widerspiegelt.“

          Das könnte sein. Schon vor einigen Wochen war bekannt geworden, dass es in der katholischen Kita Maria Königin in Mainz-Weisenau über Wochen hinweg zu massiven sexuellen Übergriffen unter den Kindern gekommen war. Und in dieser Woche sind in zwei weiteren kirchlichen Einrichtungen Mitarbeiter des sexuellen Missbrauchs an Kindern verdächtigt worden. Im südessischen Pfungstadt wurde ein 20-Jähriger fristlos entlassen, der in der katholischen Kindertagesstätte seinen Bundesfreiwilligendienst absolviert hatte und von Erziehern in flagranti dabei ertappt worden war, wie er in einem Wirtschaftsraum zwei Kinder belästigte. Und in einer evangelischen Kindertagesstätte im benachbarten Roßdorf wurde ein festangestellter Erzieher festgenommen, nachdem ein Kind von Übergriffen des Mannes erzählt hatte.

          Kinder unter 14 Jahren, die andere Kinder belästigen oder missbrauchen, sind hingegen nicht strafmündig. Auch gehe es bei ihnen selten um sexuelle Befriedigung, sagt Forensiker König. Alle Kinder könnten zwar von Geburt an sexuelle Lust empfinden, was sich zum Beispiel durch das Spielen mit den eigenen Genitalien zeige. Aber „von Missbrauch würde man nur sprechen, wenn es ein Machtgefälle zwischen dem übergriffigen Kind und dem anderen Kind geben würde“. Meist sei so ein Machtgefälle zwischen Kindern, die etwa gleich alt seien, nicht vorhanden. „Man muss dann fragen: War das ein Übergriff oder ein neugiergesteuertes Spiel, das vielleicht ein wenig aus dem Ruder gelaufen ist? Hätte das Kind, mit dem das gemacht wurde, jederzeit weggehen können oder nicht?“ Ende des Monats wird die evangelische Kita in Wiesbaden-Igstadt wieder öffnen; dann soll die Aufarbeitung weitergehen.

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