Missbrauch in Kita : Es ging über Wochen
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Schreckliche Vorwürfe: Im Hof der Kindertagesstätte „Maria Königin“ in Mainz stehen Dreiräder wie verlassen. Bild: Michael Kretzer
In einer Mainzer Kita sollen Kinder immer wieder missbraucht worden sein – von anderen Kindern. Ein Vater, dessen Sohn die Tagesstätte besucht, erzählt über das große Schweigen und Achselzucken in der Einrichtung.
Die Jakob-Sieben-Straße in Mainz-Weisenau führt den Hang hinauf, sie ist sehr schmal und gesäumt von unscheinbaren Arbeiterhäusern aus den fünfziger Jahren. Gegenüber einer grauen Betonwand versperrt ein verrostetes rotes Eisentor den Weg zu einer Treppe, die hinab führt in einen kleinen, mit Waschbeton gepflasterten Hof. In einer Rabatte verkümmert undefinierbares Grün. Rote Dreiräder stehen in dem Viereck, ein blauer Ball liegt da, als würden die Kinder morgen gleich wiederkommen. Ein moderner, rot verputzter Vorbau schiebt sich auf den Platz wie ein Fremdkörper. In diesem Haus, der Kindertagesstätte Maria Königin, haben Erzieherinnen über Monate hinweg offenbar nicht merken wollen, dass es zu sexuellen Übergriffen und Gewalt unter den 55 Kindern gekommen sein soll.
Konkret mussten sich Kinder vor anderen entblößen, ihre Geschlechtsteile zeigen und sich Schläge gefallen lassen, so der Träger der Kita, das Bistum Mainz, das sich schockiert zeigte; Generalvikar Prälat Dietmar Giebelmann nannte die Vorkommnisse „massive sexuelle Übergriffe“ von Kindern gegen Kinder. Die katholische Pfarrei Mariä Himmelfahrt hat in dieser Woche das Personal der Kita fristlos entlassen, diese ist bis September geschlossen und soll dann mit neuem Personal wiedereröffnet werden.
„Dass dort geschlagen wird, war sehr offensichtlich!"
Herr G., ein schmaler junger Mann mit tiefen Augenringen und eingefallenen Wangen, ist immer noch fassungslos. Sein fünfjähriger Sohn besucht die Kita, und jetzt, am Ende dieser Woche, in der alles herauskam, sitzt G. in seinem Wohnzimmer mit den heruntergelassenen Rollläden und redet sich seinen Frust von der Seele, während im Nebenraum seine drei kleinen Kinder zu Abend essen. G.s Frau ist bei der Arbeit – seit die um die Ecke gelegene Kita geschlossen ist, arbeitet der Vater Frühschicht und die Mutter Spätschicht, so dass sie sich mit der Kinderbetreuung abwechseln können. „Dass die Erzieherinnen nicht gesehen haben, was da passiert ist! Es ging über Wochen!“ G. schüttelt den Kopf. „Dass dort geschlagen wird, war sehr offensichtlich!“
Auch sein eigener Sohn sei immer aggressiver geworden. „Er reagierte in manchen Momenten aggressiv, in denen er früher die Ruhe bewahrt hätte. Und er war auch ängstlicher als früher.“ Einmal habe er mit ihm nach der Kita einen Bus besteigen wollen, und normalerweise liebe der Fünfjährige das Busfahren. „Aber an dem Tag wollte er partout nicht, weil ein anderer Junge aus seiner Kita auch mitfuhr – einer von denen, die andere geschlagen haben.“
Vor ein paar Wochen sei sein Sohn auch selbst mit einem langen Kratzer auf der Wange nach Hause gekommen. „Er sagte, er habe deswegen geweint. Wir haben dann die Erzieherinnen darauf angesprochen, aber die wussten nicht, was passiert war. Sie haben gesagt, sie hätten nichts gesehen, und mit den Schultern gezuckt“, erzählt G.
Kein Opfer, kein Täter
Auch geschlagen worden sei sein Sohn, G. erwähnt das fast beiläufig. Aber die Erzieherinnen hätten es ihm und seiner Frau nicht erzählt. Als seine Frau die Erzieherinnen darauf angesprochen habe, hätten diese so getan, als hätten sie die Frage nicht gehört. Die Erzieherinnen hätten – bis auf einen neu eingestellten Erzieher – immer nur herumgesessen, miteinander geschwatzt und zugeguckt, wie die Kinder draußen spielten.
G. betont allerdings mehrfach, dass sein Sohn kein Opfer gewesen sei, und natürlich auch kein Täter. Vielmehr habe der Sohn den Erzieherinnen gesagt, dass er gesehen habe, dass einige Kinder ihren Po entblößen mussten. „Aber die Erzieherinnen haben nur geantwortet: ‚Komm später wieder.‘ Sie haben es verharmlost.“ Sein Sohn habe auch beobachtet, dass sein bester Freund massiv geschlagen wurde. „Aber die Erzieherinnen haben die Eltern dieses Kindes nicht informiert“, erzählt G.
Plötzlich kommt sein fünfjähriger Sohn weinend ins Wohnzimmer gelaufen und der zehnjährige Bruder hinterher. Der Kleine ruft: „Er hat mir weh getan!“ G. bleibt auf der Couch sitzen, er sagt: „Das darfst du nicht“, dann rennen die Kinder wieder weg. G. erklärt: „Der große Bruder bekommt natürlich mit, was da in der Kita gelaufen ist, und zieht den Kleinen jetzt damit auf.“ Er zuckt mit den Schultern. Dann sagt er etwas Verstörendes: dass sein Sohn gern wieder in die Kita gehen wolle und seine Kita liebe. Der Vater sagt: „Ihm ist da kein Leid angetan worden.“
„Alles ist doof“
Der beste Freund seines Sohnes habe allerdings stark unter dem Missbrauch gelitten. „Er war früher immer fröhlich, er hat sich immer gefreut, wenn er mich sah. Aber in den letzten Wochen wurde er immer leiser und verschlossener. Er hat sich nur noch an die Erzieherinnen geklammert. Ich habe ihn gefragt: ‚Was ist los, hast du einen schlechten Tag?‘ Und er antwortete: ‚Alles ist doof.“
Eine Mutter habe ihm erzählt, ihre Tochter traue sich zu Hause nicht mehr allein auf die Toilette, und sie habe von zu Hause Spielzeug mit in die Kita genommen mit der Begründung, sie werde umgebracht, wenn sie das nicht tue.
Gegen die Kinder, die andere missbraucht haben, wird nicht ermittelt werden. Sie sind strafunmündig. Die Erzieherinnen sind allerdings im Visier der Ermittler; insgesamt könnten zudem mehr als 100 Mädchen, Jungen und Familienmitglieder befragt werden. Zu Vermutungen, Kinder könnten zu Hause Pornografie gesehen haben oder gar selbst missbraucht worden sein, erklärte der stellvertretende Leiter der Staatsanwaltschaft Mainz, Gerd Deutschler, am Samstag, das seien bislang reine Spekulationen. „Das Alltagswissen sagt aber, dass Drei- bis Vierjährige so etwas nicht im Bewusstsein haben.“