Kardinal Müller im Gespräch (Teil 3) : „Keine Barmherzigkeit bei Missbrauch“
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Primus inter Pares: Gerhard Kardinal Müller Bild: dpa
Im dritten Teil des F.A.Z.-Gesprächs lässt Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller keine Zweifel an der Entschlossenheit des Vatikans, sexuelle Gewalt im Raum der Kirche nach Recht und Gesetz zu ahnden.
Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller ist Präfekt der vatikanischen Kongregation für die Glaubenslehre. Im ersten Teil seines Gesprächs mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sprach er über Widerstände gegen seine Aufnahme ins Kardinalskollegium, die Pius-Brüderschaft, die Befreiungstheologie und die Entweltlichung der Kirche.
Im zweiten Teil des Gesprächs warnte der frühere Bischof von Regensburg vor einer Entwicklung, in der die Unauflöslichkeit der Ehe zu einer abstrakten Theorie würde, die in der Praxis keine Rolle mehr spielt. Zugleich sah er sich eins mit Papst Franziskus in der Absicht, wiederverheiratet Geschiedenen „seelsorgerlich zu helfen“.
Im dritten Teil spricht er nun über die Entschlossenheit des Vatikans, sexuelle Gewalt im Raum der Kirche nach Recht und Gesetz zu ahnden sowie über die Katholische Kirche in Deutschland.
Wenn die Glaubenskongregation in den vergangenen Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit rückte, dann nicht wegen der Theologie der Befreiung oder dem Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen, sondern wegen sexueller Übergriffe Geistlicher auf Schutzbefohlene, die von der Kongregation bearbeitet werden. Trifft es zu, dass Papst Benedikt XVI. allein in den beiden letzten Jahren vor seinem Amtsverzicht und damit auch unter Ihrer Beteiligung etwa 300 bis 400 Geistliche aus dem Klerikerstand entließ?
Die Glaubenskongregation war nie nur für die Glaubens- und Sittenlehre zuständig, sondern auch für Ahndung von Delikten gegen den Glauben. In diese Kategorie fallen nicht nur die „klassischen“ Tatbestände wie Apostasie, Häresie und Schisma, sondern auch Vergehen im Bereich der Lebens- und Amtsführung von Geistlichen, wie etwa die Verletzung des Beichtgeheimnisses und der Heiligkeit der Sakramente.
Von letzterem war selbst im Vatikan lange Zeit nicht die Rede.
Im letzten Jahrhundert gewann eine sonderbare Meinung die Oberhand, die Natur des Menschen habe sich grundlegend geändert, man brauche einem nur gut zuzureden, und dann handle er auch gut, ein kirchliches Strafrecht sei ein „mittelalterliches“ Relikt und mit dem Evangelium der Liebe nicht vereinbar. Niemand war mehr recht zuständig für Delikte, die auch ein Geistlicher als Mensch begehen kann im Widerspruch zu seiner hohen Berufung, den Gläubigen ein guter Hirte in Namen Christi zu sein. Unter dem Eindruck der Vorkommnisse in den Vereinigten Staaten und in Irland betraute im Jahr 2001 Papst Johannes Paul II. die Glaubenskongregation wieder mit der gerichtlichen(!) Behandlung dieser schweren Delikte.
Warum die Glaubenskongregation und nicht eine der Obersten Gerichtshöfe der Kirche, also Rota oder Apostolische Signatur?
Die Glaubenskongregation ist das oberste Apostolische Gericht in Glaubens- und Sittenfragen und Straftaten gegen die Heiligkeit der Sakramente. Der sexuelle Missbrauch von Heranwachsenden ist außer einem Verbrechen in strafrechtlicher Hinsicht auch ein brutaler Angriff auf die Würde eines jungen Menschen, die in der Heiligkeit Gottes begründet ist und sie repräsentiert. Der Priester des Herrn verkündet die Liebe Gottes, die immer aufbaut und niemals zerstört.
Wie läuft ein kirchliches Strafverfahren wegen sexueller Gewalt ab?
Im Prinzip so: Zunächst befasst sich die Diözese mit solch einem Fall. in zweiter und dritter Instanz ist die Glaubenskongregation bzw. das Oberste Apostolische Tribunal, d.h. die Kardinalsversammlung bei uns, damit beschäftigt. Die Einzelheiten des Procedere ergaben sich aus den Leitlinien der Bischofskonferenzen und dem Motu proprio „Sacramentorum sanctitatis tutela“ ( 2010). Ich möchte noch erwähnen, dass die Kleriker, die in den vergangen Jahren entlassen wurden, mehrheitlich für Vorgänge zur Rechenschaft gezogen wurden, die zum Teil bis zu fünf Jahrzehnten zurückliegen. Im Verhältnis zu ihrer Gesamtzahl in der Welt ist diese Zahl prozentual zwar klein und deshalb jede Kollektivverdächtigung gegen „die“ Priester“ eine schweres Unrecht. Im Blick auf die Opfer aber und angesichts der Verletzung ihrer Menschenwürde durch einen Diener Jesu Christi, erschüttert und beschämt diese Nachricht. Jede einzelne Straftat ist ein totales Unrecht.
Das UN-Kinderrechtskomitee stellte dem Vatikan vor einigen Wochen ein schlechtes Zeugnis über die Achtung, die Umsetzung der Kinderschutzkonvention aus. Wie erklären Sie sich das?
Kritische Beobachter sprachen eher von einem falschen Zeugnis. Der Heilige Stuhl als Völkerrechtssubjekt hat diese Konvention unterschrieben, um ihr noch mehr moralisches Gewicht zu geben, aber nicht um die katholische Kirche unter die Staaten einzureihen. Es ist übrigens nicht „der Vatikan-Staat“, der die Kirche leitet, wobei die Ortskirchen wie ein Staat im Staat erscheinen müssten, der von einem fremden Souverän regiert wird. Als Bürger unterstehen die Kleriker und kirchlichen Mitarbeiter dem Zivil- und Strafrecht ihres jeweiligen Staates. Ein kirchenrechtlicher Prozess steht nicht an seiner Stelle oder ersetzt ihn gar. Bei einem kanonischen Prozess auf diözesaner oder universalkirchlicher Ebene geht es um die Frage, ob eine schlimme Straftat einen Kleriker von der Weiterführung seines geistlichen Amtes ausschließt oder ihn darin massiv einschränkt. Über die kanonischen Sanktionen gegen den Täter hinaus ist die Zuwendung und Hilfe für die Opfer von größter Bedeutung, wofür eben die Diözesen und die Ordensgemeinschaften Sorge zu tragen haben. Der Bericht aus Genf nutzte die Gelegenheit, um der Kirche ideologische Vorstellungen aufzunötigen, die nach unserer Überzeugung der Würde des Kindes diametral entgegenstehen.
Auf welche ideologischen Vorstellungen beziehen Sie sich?
Es wurde so aufgefasst, dass die Kirche ihre ablehnende Haltung gegenüber der Abtreibung, also der Tötung eines ungeborenen Kindes aufgeben solle, ebenso ihre Überzeugung von der Bipolarität und der Komplementarität der Geschlechter und damit von Ehe und Familie als Urzelle von Kirche und Gesellschaft.
Seit mehr als zwei Jahren entwickelt ein kirchliches Zentrum für Kinderschutz Programme, um kirchliche Mitarbeiter weltweit für Gewalt gegenüber Minderjährigen und Schutzbefohlenen zu sensibilisieren. Ein Fall für die Unesco?
Zu dem bereits Gesagten ist hinzuzufügen: Nichts von all dem Positivem wird erwähnt, was konkret auf allen Ebenen der Kirche, beim Heiligen Stuhl, bei den Bischofskonferenzen, in den einzelnen Diözesen oder den Ordensgemeinschaften zum Schutz der Kinder getan wurde und wird. Dabei haben unvoreingenommene Beobachter festgestellt, dass „die“ Kirche seit 20 Jahren mehr zum Schutz der Kinder leistet als manch andere Institutionen, die sich hinter ihr wegducken.
Auch in der Kirche ging es bis vor kurzem nur um den Schutz der Institution. Die Opfer wurden oft übersehen.
Die Leitlinien, welche die Bischofskonferenzen mit unserer Unterstützung erarbeitet haben, legen großes Gewicht auf Hilfe und Zuwendung zu den Opfern. Der Paradigmenwechsel besteht im Vorrang des Opferschutzes.
Anfang Dezember gab der Erzbischof von Boston Sean Patrick Kardinal O’Malley bekannt, dass der Vatikan eine Kinderschutzkommission ins Leben rufen werde. Seit kurzem gibt es diese Kommission, die zunächst über ihre Struktur und Aufgaben berät. Was hat es damit auf sich?
Die Kommission wird den wissenschaftlichen Sachverstand auf dem Feld des Kinderschutzes bündeln. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit soll auf dem Thema Prävention und Hilfe für Opfer liegen. Das Thema ist der Kindesmissbrauch weltweit und in allen Gesellschaftsschichten.
Papst Benedikt XVI. kannte in Sachen Missbrauch kein Pardon. Papst Franziskus spricht häufig von Barmherzigkeit. Lässt das auf einen Unterschied in der Bewertung sexueller Übergriffe oder auf einen veränderten Umgang mit Tätern schließen?
Ich kann sagen, dass Papst Franziskus dieses Thema nicht weniger nahegeht als seinen Vorgängern. Es darf keine Barmherzigkeit für die Täter geben zu Lasten der Gerechtigkeit für die Opfer und ihrer Würde. Der Täter hat einen jungen Menschen an Leib und Seele und auch in seinem Urvertrauen in Gott, unseren Vater, und die Kirche „unsere Mutter im Glauben“ schwer verletzt. Darum muss die kompromisslose Distanzierung der Kirche von Tat und Täter über jeden Zweifel erhaben sein. Vorausgesetzt ist selbstverständlich der klar bewiesene Tatbestand. Es wurden auch Unschuldige verdächtigt.
Vor kurzem haben die deutschen Bischöfe den Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Was ist aus Ihrer Sicht dessen Aufgabe?
Das Zweite Vatikanische Konzil sagt, dass die Bischofskonferenz eine Arbeitsgemeinschaft ist, die bestimmte lehrmäßige und disziplinarische Zuständigkeiten hat. Das betrifft überdiözesane kirchliche wie gesamtgesellschaftliche Fragen sowie die Beziehungen zu staatlichen und öffentlichen Instanzen. Der Vorsitzende einer Bischofskonferenz ist nach innen Moderator und nach außen der Sprecher. Die Bischofskonferenz ist jedoch keine Zwischeninstanz zwischen dem Papst und den einzelnen Bischöfen und Diözesen.
Wenn Sie auf die vielen Jahre zurückblicken, in denen Sie in Deutschland Theologieprofessor und Bischof waren: Wie würden Sie rückblickend die Stärken und die Schwächen der Kirche in Deutschland beschreiben?
Ihre Stärken auf den ersten Blick sind sicher die großen, international tätigen Hilfswerke, die sehr viel Gutes für die vielen Armen und Notleidenden in der Welt bewirken. Ebenso ist der Beitrag der Kirche und der Christen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft für das Gemeinwohl höchst positiv zu würdigen. Auch das Engagement der Kirche in Kindergärten und Schulen, den Organisationen der Caritas für Kranke, Behinderte, Senioren, Migranten und Flüchtlinge hat eine große Bedeutung. Obwohl es sehr viele gibt, die sich in Pastoral, Katechese und Religionsunterricht ernsthaft und hochmotiviert um die Glaubensvermittlung bemühen, haben wir noch nicht die adäquate theoretische und praktische Antwort gefunden auf den Säkularisierungsprozess und die pluralistische Gesellschaft, in der wir ein Teil sind. Zu schnell beklagen wir, was alles nicht mehr ist und geht, ohne die Möglichkeiten zu erkennen für eine lebendige Bezeugung des Evangeliums Christi, das nie überholt werden kann. Die Kirche muss ihre lebendige, hoffnungsgebende Glaubensüberzeugung zurückgewinnen, damit der religiöse Kern ihres Lebens gesund bleibt. Ohne Glauben an den Gott der dreifaltigen Liebe würden unsere guten Werke auf die Dauer ihre Leuchtkraft verlieren. „Mit Christus Brücken bauen“ zu Gott und den Menschen, das ist das Leitwort des kommenden Katholikentags in Regensburg. In treuer Verbundenheit gesagt: ein guter Wegweiser für das Christentum in Deutschland und in der Welt!