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Optisches Museum : Wo Besucher schrumpfen

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Zum Staunen in die Scheue: Im optischen Museum von Leinroden kann man seinen Sinnen nicht trauen. Ein Professor erklärt die Phänomene.

          3 Min.

          Wo muss ich denn hinschlagen?“, fragt Annalena, ein elfjähriges Mädchen mit wirren, braunen Locken, seine blonde Freundin Rebekka, die fünf Meter von ihr entfernt steht und sie durch ein Guckloch in einem Holzbrett beobachtet. „Ihr braucht euch doch nicht immer schlagen, du kannst ihr auch in der Nase bohren“, sagt Bernd Lingelbach, Professor für Augenoptik an der Fachhochschule Aalen.

          Rebekka kichert, begeistert von diesem Vorschlag. Sie zeigt Annalena durch Gesten, wohin sie sich bewegen muss. „Stopp und jetzt bohren!“ Gelächter hallt durch die Scheune, auch von Muna, die es sich in der Ecke des alten Gemäuers auf einem Schemel bequem gemacht hat. Man muss selbst einen Blick durch das Loch werfen, um zu sehen, was die Mädchen so erheitert: Es sieht tatsächlich so aus, als ob Annalena Muna, die auf dem Stuhl wie ein Zwerg wirkt, den Finger in die Nase gesteckt hat. Tritt man zwei Schritte zurück, macht die Welt wieder Sinn. Annalena steht neben dem Untergestell des Stuhls, während Muna zwei Meter hinten auf der abgeschraubten Sitzfläche sitzt. Aber warum nimmt man alles ganz anders wahr? Darauf liefert Bernd Lingelbach mit seinem optischen Museum, das sich im kleinen Dorf Leinroden, rund 80 Kilometer östlich von Stuttgart befindet, Antworten.

          Wirkung wie ein Wimmelbuch

          Eine Stunde zuvor hat er für die heutige Führung, einen Kindergeburtstag für Mädchen, sämtliche Apparaturen und Lichter in der dreistöckigen Scheune eingeschaltet. Sie wirkt auf den ersten Blick wie ein reales Wimmelbuch. Denn neben sämtlichen Ausstellungsstücken und Plakaten mit optischen Täuschungen hängen, stehen und liegen Porzellanfiguren, Plüschtiere, Bücher. An einem der alten Fachwerkbalken hängt neben einem Hirschgeweih ein kalifornisches Nummernschild von 1980. Es hat durchaus eine besondere Bedeutung, denn in Kalifornien hat Lingelbach das Objekt entdeckt, mit dem alles begann: den Ames-Raum, gleichzeitig das Herzstück seines Museums. Auf die Idee dazu hat ihn einer seiner Studenten gebracht, der den Raum als Projektarbeit nachbauen wollte. Bald darauf kam der nächste Student: „Ich möchte auch etwas in der Scheune machen.“ So ging das in den vergangen zehn Jahren immer weiter, der Professor baute mit Studenten und vielen Ehrenamtlichen eine der weltweit größten Sammlungen für optische Phänomene auf.

          Tatsächlich sieht man die richtigen Größenverhältnisse

          „Das Prinzip der Größenkonstanz wird hier überlistet“, sagt Lingelbach, während er gebückt in den Raum mit dem karierten Fußboden klettert. „Durch das Guckloch in der Vorderwand wirkt der Raum vollkommen rechteckig.“ Lingelbach läuft, die Konstruktion des Zimmers erläuternd, in die hintere rechte Ecke. „Doch eigentlich ist er trapezförmig nach links hinten verzerrt.“ Und wirklich, während der 60-Jährige in die linke Ecke läuft, scheint er zu schrumpfen. Er hebt einen Teddybär auf, der mit ihm zu einem Riesen wächst, je weiter er wieder in die rechte Ecke geht.

          Die optische Erfahrung, die in den nächsten Minuten der Führung immer wieder eine Rolle spielt, „lässt uns annehmen, dass ein normaler Raum rechtwinklig ist, tatsächlich sieht man aber die richtigen physikalischen Größenverhältnisse“, schmunzelt Lingelbach. „Wie viele Objekte haben sie denn?“, fragt Gertraud Glessing, die Mutter des Geburtstagkindes. Lingelbach überlegt lange. „Oh, das ist unmöglich zu sagen, von den großen wie dem Ames-Raum und der Herzoginnenschaukel nicht allzu viele, aber die kleinen habe ich nie gezählt.“ Auch die Besucherzahlen könne er schlecht einschätzen, 1000 bis 2000 im Jahr seien es, aber viel zu wenige, um die enormen Kosten zu decken. Deswegen hat er einen Verein gegründet, Sponsoren und Partner wie das Swiss Science Center Technorama, von dem er schon einige Objekte, darunter eine Camera Obscura, bekommen hat.

          Das erinnert an Dan Browns „Illuminati“

          Besonders stolz ist er auf ein Ereignis im Jahr 2009. Jährlich treffen sich Wisssenschaftler aus der ganzen Welt zur European Conference on Visual Perception, die immer in einem anderen Land stattfindet. „Eigentlich sollte der Kongress in Regensburg tagen, aber viele Forscher haben sich bereits einen Tag früher in Leinroden getroffen und sich das Museum angeschaut.“ Darunter war auch Richard Gregory, der trotz seiner 86 Jahre jeden Winkel der Scheune erkundete. Von dem britischen Neurowissenschaftler hat er ein Ambigramm seines Namens. Diese künstlerische Spielerei ist schwer herzustellen, denn das dargestellte Wort soll um 180 Grad gedreht, exakt gleich aussehen. „Begeisterte Dan-Brown-Leser dürften sich nun an Illuminati erinnert fühlen.“

          Der Höhepunkt der zweistündigen Führung scheint für die Kinder der umgekippte Salon zu sein. Sämtliche Möbelstücke von Sofa bis zu Lampe und Teppich sind an der Wand festgeschraubt. Marietta und Vanessa stützen sich mit den Händen auf Muna ab und lassen sich begeistert fotografieren. Zufrieden betrachten sie das bizzare Beweisbild, auf dem die Welt kopfsteht. Wer den Ausgang finden möchte, muss allerdings noch ein kleines Rätsel lösen. Der Professor hält ein Schild mit dem Wort „Exit“ hoch. „So, wer kann mir sagen, wo es nach draußen geht?“

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