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Heimunterricht : „Unsere Kinder leben im Verborgenen“

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In Deutschland gilt strikte Schulanwesenheitspflicht

Die Szene der Schulverweigerer ist vielfältig. Manche, wie die Dudeks, halten sich an Stundenpläne und schaffen für ihre Kinder zu Hause eine Schulatmosphäre mit Bänken, Pausen, Ferien und Klassenarbeiten. Andere sind davon überzeugt, dass Kinder überhaupt keine formale Struktur brauchen, um etwas zu lernen. Einige Familien sind konservativ-christlich orientiert und unterrichten auf der Grundlage der Bibel, andere haben alternative Vorstellungen vom Leben und lassen ihre Kinder nicht nur ohne Schule, sondern auch ohne Schuhe aufwachsen. Einige sagen, ihre Kinder seien in der Schule gemobbt worden, andere haben ihren Nachwuchs dort als gelangweilt, überfordert, deprimiert oder einsam erlebt. „Heimunterricht“, sagt Vereinsgründer Edel, „beginnt normalerweise mit einem sozialen Bedürfnis.“

Deutschland gehört zu den wenigen Ländern, in denen Hausunterricht verboten ist und eine strikte Schulanwesenheitspflicht gilt. Die geht auf das Reichsschulpflichtgesetz von 1938 zurück. Als Begründer der modernen Schulverweigerer-Bewegung gilt Helmut Stücher, ein bibeltreuer Buchhalter aus Siegen. 1980 hielt er seine beiden Kinder von der Schule fern, also auch von Sexualkunde und Evolutionslehre. Jahrelang kämpfte er mit den Behörden, musste Strafen zahlen, wurde verurteilt, verlor sogar das Sorgerecht – schaffte es am Ende aber doch, alle seine elf Kinder aus öffentlichen Schulen fernzuhalten. Er gründete und leitete die Philadelphia-Schule, ein staatlich nicht anerkanntes christliches Heimschulwerk.

Inzwischen bekommen die deutschen Schulboykotteure Unterstützung aus Übersee. Die „Homeschool Legal Defense Association“ etwa, eine amerikanische Organisation mit Verbindungen zu christlich-fundamentalistischen Gruppen, gewährt Familien, die Deutschland wegen der Schulpflicht verlassen wollen, juristische und finanzielle Hilfe. Mike Donnelly, einer ihrer Anwälte, sagt über Deutschland: „In keinem westlichen Land ist es schlimmer.“ Er wünscht sich mehr zivilen Ungehorsam. „Wir haben nicht die Mittel, jede Familie zu unterstützen. Aber wenn wir von einem besonders skandalösen Fall erfahren, schalten wir uns ein.“

Durch das enge Netz der Behörden gerutscht

Auch ohne amerikanische Hilfe beginnt sich die deutsche Schulverweigerer-Szene zu organisieren. Im Internet gibt es Foren und Gesprächskreise, werden Informationen ausgetauscht und juristische Strategien diskutiert. „In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Bewegung stark verändert“, sagt der Soziologe Thomas Spiegler, der sich an der Universität Marburg mit dem Thema befasst. „Es gibt viele neue Netzwerke, die sich nicht mehr in erster Linie am Glauben orientieren, sondern unterschiedliche Richtungen integrieren.“

Manche Homeschooling-Verfechter sehen die enge Verbindung der Bewegung mit christlich-fundamentalistischen Organisationen als größte Hürde im Kampf für die Legalisierung des Heimunterrichts. Fälle, in denen Eltern ihre Kinder von der Schule fernhalten, damit sie nicht mit Aufklärung und moderner Wissenschaft in Berührung kommen, hält Stephanie Edel – wie ihr Mann Jan aktiv im Verein „Schulbildung in Familieninitiative“ – für kontraproduktiv. „Oft geht es gar nicht um Religion oder eine generelle Anti-Schul-Einstellung, sondern um individuelle Bedürfnisse. Manche Kinder passen einfach nicht in das öffentliche Schulsystem.“

Anna Meyer und ihr Mann sind in den Neunzigern mehrfach mit Geldbußen belegt worden, weil sie ihre vier Kinder nicht zur Schule schicken wollten. Dann ist das Ehepaar, das in einer Kleinstadt nördlich von Frankfurt lebt und anonym bleiben will, irgendwie durch das enge Netz der Behörden gerutscht. Erst sei das Schulamt verlegt worden, dann der Direktor in Pension gegangen, erinnert sich Anna Meyer. „Schließlich sind wir umgezogen – und das war’s.“ Seither werden die Kinder der Meyers, die es für die Behörden praktisch nicht gibt, von ihren Eltern ungestört zu Hause unterrichtet. „Wir leben im Verborgenen und nehmen nicht am sozialen Leben teil“, sagt Anna Meyer.

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