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Grenzüberschreitende Kriminalität : Im Nu über die Neiße

Wildwechsel der Kriminalität: Das Gießmannsdorfer Wehr an der Neiße bei Hirschfelde nördlich von Zittau

Wildwechsel der Kriminalität: Das Gießmannsdorfer Wehr an der Neiße bei Hirschfelde nördlich von Zittau Bild: Lüdecke, Matthias

An Deutschlands Ostgrenze häufen sich Einbrüche und Diebstahl. Die Polizei ist machtlos. Schlimmer noch: In manchen Gegenden gibt überhaupt keine Polizei mehr. Der Protest wächst. Aber so schnell wird sich nichts ändern.

          9 Min.

          Es war in der Nacht zu einem Sonntag Mitte Januar, als Gerald Rückert noch einmal kurz in seine Firma fuhr. Er wollte in den Urlaub fahren und nur sichergehen, dass alles in Ordnung ist. Um 2.30 Uhr war alles ruhig. Drei Stunden später klingelte sein Handy, und einer seiner Mitarbeiter schilderte atemlos schier Unglaubliches. Als er zur Arbeit gekommen sei, seien drei Männer abgehauen; mitten auf dem Hof aber standen mit laufendem Motor ein Traktor mit angekoppelter Holzhackmaschine, ein Transporter mit Notstromaggregat auf der Ladefläche sowie ein Schlepper mit angehängtem Muldenkipper.

          Stefan Locke
          Korrespondent für Sachsen und Thüringen mit Sitz in Dresden.

          Es war Technik für gut 600.000 Euro, welche die Diebe aus Hallen und Unterständen gefahren und zum Abtransport bereitgestellt hatten. „Die schrecken vor nichts mehr zurück“, sagt Rückert, der seinen Urlaub abbrach. Er wisse nicht, was passiert wäre, wenn der Bruch geklappt hätte. „Aber das hier geht an die Existenz.“ 1990 hat der 52 Jahre alte Mann den Betrieb in Casekow nahe Schwedt, 100 Kilometer nordöstlich von Berlin, gegründet. Mit 75 Mitarbeitern betreibt er heute vier Standorte, handelt mit Getreide, Dünge- und Pflanzenschutzmitteln und bietet Lohnleistungen für Landwirte an. Das lief lange gut, bis nach Öffnung der Grenze zu Polen Ende 2007 plötzlich häufig eingebrochen wurde. Mal fehlten Computer, mal ein paar Ersatzteile.

          Angst und Ärger

          Seit vergangenem Jahr aber geht es um mehr. Anfang Juni räumten Diebe sein Pflanzenschutzmittellager leer, Ware im Wert von 60.000 Euro. Drei Wochen später wurde die Halle wieder komplett geplündert, obendrein ließen die Täter einen nagelneuen Traktor für 100.000 Euro mitgehen. Das massive Hoftor, das Rückert, wie von der Versicherung gefordert, nach den Kleindiebstählen eingebaut hatte, brachen sie gar nicht erst auf, sondern sägten eine Kiefer um und fuhren einfach durch den Zaun. „Wir werden hier regelrecht ausgeplündert.“ Wenn Rückert „wir“ sagt, meint er Einwohner und Unternehmer in der Uckermark, aber man hört Ähnliches entlang der ganzen Ostgrenze Deutschlands, von Usedom bis Zittau. Die Uckermärker wollen jetzt nicht mehr einfach zuschauen. Sie wollen sich wehren.

          „Es gibt hier kaum jemanden, der noch nicht bestohlen wurde“, sagt Michael Branding, Landtechnikhändler aus Kerkow bei Angermünde, und er stellt gleich klar: „Wir haben nichts gegen Polen, sondern gegen Kriminalität.“ Die meisten machen hier gute Geschäfte mit den Nachbarn. Doch die Freude ist in Angst und Ärger umgeschlagen. „Das war ein schleichender Prozess“, erzählt Branding, dem Diebe Maschinenteile im Wert von 50.000 Euro abgeschraubt haben.

          Betonsperren sollen den Diebstahl verhindern
          Betonsperren sollen den Diebstahl verhindern : Bild: Lüdecke, Matthias

          Jeder Tag bringt neue Meldungen, etwa von dem Bauunternehmer, der drei Mal einen Lkw einbüßte und dem die Versicherung nun nichts mehr zahlt. Oder von dem Landwirt, dem zwei Traktoren gestohlen wurden, die Versicherungssumme aber nur für einen neuen reicht. Die Versicherungen fordern mehr Sicherheit, erhöhen Selbstbeteiligung und Beiträge. Branding hat für 10 000 Euro einen neuen Zaun und eine Alarmanlage bauen lassen, jetzt denkt er über Flutlichtmasten nach. „Es ist ja nicht nur das Geld“, sagt er. „Unsere Lebensqualität ist im Eimer.“ Jeden Alarm kriegen er und seine Mitarbeiter aufs Handy – nachts, am Wochenende, im Urlaub.

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