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Verbitterung : Sie sollen ruhig sehen, wie schlecht es mir geht

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Auch ihm konnte geholfen werden: Ebenezer Scrooge, Figur aus Charles Dickens` Weihnachtsgeschichte – hier in Robert Zemeckis` Trickfilmversion von 2009 –, zeigt alle Anzeichen einer Verbitterung. Bild: INTERFOTO

Manche Menschen verkraften Kränkungen nicht. Sie sind dann dauerhaft niedergeschlagen, wütend und sinnen auf Rache. Ist die Verbitterung ein Leiden eigener Art?

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          Offenbar gibt es ein neues Volksleiden. Wer infiziert ist, wird feststellen, zeit seines Lebens hinter den eigenen Möglichkeiten geblieben zu sein, wird erkennen müssen, dass andere es trotz vergleichbarer Leistungen bedeutend weiter bringen. Er wird sich darum sorgen, das Niveau seines Wohlstands nicht zu halten, womöglich auch fürchten, dass ihm andere etwas wegnehmen könnten.

          Die Rede ist von der Verbitterung, jener ätzenden Kombination aus Gefühlen, die mit der Überzeugung einhergeht, zu kurz gekommen zu sein, nicht das bekommen zu haben, was man für angemessen hielte. Zuletzt waren es Soziologen oder Migrationsforscher, die sie diagnostizierten. In Zeitungen, im Radio und im Fernsehen kommen sie zu Wort. Vor allem aus dem Erfolg populistischer Gruppen meinen sie ableiten zu können, dass die Verbitterung kein Schattendasein am Rande der Gesellschaft friste. Stattdessen, so argumentieren sie, mache sie sich längst unter Teilen der Mittelschicht breit. Auch wer als gefährdet gilt, wird bei diesen Gelegenheiten ausgemacht: Leute, die gut ausgebildet sind und merken, dass sie trotzdem abgehängt werden. Ingenieure zum Beispiel, die sich mit Nachhilfe über Wasser halten, bewährte Firmenangestellte, die einen Jahrzehnte jüngeren Chef vor die Nase gesetzt bekommen, oder auch Taxifahrer mit Doktortitel. Arbeit und Arbeitsverhältnisse scheinen bei alledem eine große Rolle zu spielen.

          „Betroffen sind immer die Guten“

          Ist denn überhaupt irgendwer vor der Verbitterung sicher? Anruf bei Michael Linden, Arzt, Seelenforscher und Verbitterungsexperte. Als Psychiater hat er erreicht, wovon die meisten seiner Kollegen nur träumen, er ist Professor und leitet eine Arbeitsgruppe an der Berliner Charité. Er ist beruflich ausgelastet und versteht sich zudem darauf, auch andere für seine Themen zu interessieren, vor allem für die „Verbitterungsstörung“, in der er eine eigenständige Krankheit sieht. Als Referent ist er auf Symposien gefragt, als Interviewpartner sowieso. Die Festanstellung, akademische Freiheiten, die Aufmerksamkeit und sein Erfolg – einer wie er muss doch vor der Verbitterung geschützt sein? „Leider nicht“, antwortet Linden. „Im Gegenteil: Wir sind da verletzlich, wo wir stark sind.“

          Bei seinen Patienten hat er das oft genug erlebt. Frauen und Männer saßen schon vor ihm, Familienmenschen und Singles, Leute mit glanzvoller Karriere und solche ohne. Sie alle hatte irgendeine Kränkung zu Fall gebracht. „Betroffen sind immer die Guten“, resümiert er, um im nächsten Atemzug zu erklären, wen er damit meint: Menschen, die an Verlässlichkeit glauben, an Solidarität und Gerechtigkeit und die in diesen Grundannahmen erschüttert werden. Beinahe jeder, meint er, habe einen wunden Punkt – sofern es etwas gibt, das ihm am Herzen liegt. Frauen verbittern eher, weil Beziehungen scheitern, Männer eher wegen geplatzter Karrieren. Letztlich, glaubt Linden, sei kaum einer davor gefeit. Am ehesten noch der Gleichgültige, dem sowieso alles egal ist.

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