Hohe Suizidrate : Die seelische Not amerikanischer Farmer
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Trügerische Idylle: Amerikanische Farmer begehen besonders häufig Suizid. Bild: AFP
In den Vereinigten Staaten nehmen sich mehr Menschen das Leben als in jedem anderen wohlhabenden Land. Bei Farmern liegt die Suizidrate etwa fünfmal so hoch wie der amerikanische Durchschnitt.
David Grafts Witwe erinnert sich noch genau an den Todestag ihres Manns. Wie jeden Morgen war der Farmer nach dem Frühstück aufgebrochen. Graft bewirtschaftete in Montana zwei Betriebe: eine Weizenfarm in der Gemeinde Floweree und eine Viehzucht etwa 70 Kilometer entfernt. „Als Dave losfuhr, fragte ich, ob er zum Mittagessen kommen würde. Er sagte: ,Vielleicht, vielleicht auch nicht‘“, berichtet Linda Graft auf der Website des Bauernverbands Montana Farm Bureau.
Gegen 8.30 Uhr hörte sie einen Schuss. Da Jagdsaison war, dachte Graft sich nichts dabei. Auch dass ihr Mann nicht zum Mittagessen kam, beunruhigte sie nicht. Erst als ihr Sohn Bryce unerwartet erschien, stieg Angst in ihr hoch. „Vater ist tot“, sagte der Dreißigjährige. Linda Graft vermutete einen Herzinfarkt ihres Manns, der jede Woche zwischen 90 und 120 Stunden arbeitete. „Ja, es hat etwas mit dem Herzen zu tun“, sagte Bryce Graft. „Vater hat sich erschossen. Ins Herz.“ Als Linda Graft nach Gründen für den Suizid suchte, fielen ihr Andeutungen über fehlende Rücklagen für das Alter ein. Ihr Mann soll vor seinem Tod erfahren haben, dass ihm der Handschlag, mit dem er Jahrzehnte zuvor die Arbeit bei Weizenfarm und Viehzucht übernommen hatte, keine Rentenansprüche sicherte.
Nach einer am Donnerstag veröffentlichten Studie der Stiftung The Commonwealth Fund nehmen sich in den Vereinigten Staaten mehr Menschen das Leben als in jedem anderen wohlhabenden Land. Für das vergangene Jahr registrierte die private Organisation mit Sitz in New York etwa 14 Suizide je 100.000 Amerikaner. Damit liegt die Suizidrate fast doppelt so hoch wie in Großbritannien. Als Gründe nennt die Erhebung seelische Störungen und fehlende Screenings möglicher Patienten. Soziale Einrichtungen würden nicht ausreichend gefördert. Zudem seien viele Hilfesuchende nicht in der Lage, für Therapien aufzukommen. In den Jahren 1999 bis 2017 beobachteten die amerikanischen Gesundheitsbehörden einen Anstieg der Zahl der Selbsttötungen um gut 30 Prozent. In Japan, China und den meisten westeuropäischen Ländern ging die Suizidrate derweil stetig zurück.
Familie ahnt meist nichts von den Sorgen
Besonders oft nehmen sich weiße Amerikaner mittleren Alters das Leben, häufig in ländlichen Regionen wie Montana, wo Farmsterben und Landflucht den wirtschaftlichen Abschwung beschleunigten. „Es fehlt an erreichbarer, günstiger und wirksamer psychologischer Betreuung“, sagt Christine Moutier von der Amerikanischen Stiftung für Suizidprävention. „Als unser Gesundheitssystem entwickelt wurde, dachte niemand an die heutigen Suizidfaktoren.“ Zu möglichen Gründen zählen Moutier und ihre Kollegen auch Depressionen und Rauschgiftsucht sowie Lebenskrisen wie Scheidungen, Überschuldung und Arbeitslosigkeit.
Bei Farmern liegt die Suizidrate etwa fünfmal so hoch wie der amerikanische Durchschnitt. Wie eine Forschungsgruppe der California Polytechnic State University in San Luis Obispo herausfand, nehmen sich Farmer sogar häufiger das Leben als Soldaten nach Kriegseinsätzen. Wie bei David Graft ahnen die Familien meist nichts von der seelischen Not. Gerade auf dem Land, so die Wissenschaftler, hafte Depressionen ein Stigma an. Die Organisation Farm Aid richtete inzwischen ein Sorgentelefon ein, um Farmern anonym helfen zu können.
Während Länder wie Japan schon vor Jahren begannen, dem Anstieg der Suizidrate durch Gesetze zur Finanzierung von Aufklärungskampagnen und psychologischer Behandlung entgegenzusteuern, tun sich die Vereinigten Staaten weiterhin schwer. Nach einem ersten Strategieentwurf 2012 lässt die Finanzierung der Programme weiter auf sich warten. „Wir machen Fortschritte bei der Erkennung von Risikofaktoren und Wegen, ihnen zu begegnen“, sagt Jane Pearson vom Nationalen Institut für geistige Gesundheit. „Die Suizidrate steigt aber weiter, weil wir das, was wir inzwischen wissen, nicht umsetzen.“
Hilfe bei Suizidgedanken
Wenn Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie – auch anonym – mit anderen Menschen über Ihre Gedanken sprechen können.
Das geht telefonisch, im Chat, per Mail oder persönlich.
Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222.
Der Anruf bei der Telefonseelsorge ist nicht nur kostenfrei, er taucht auch nicht auf der Telefonrechnung auf, ebenso nicht im Einzelverbindungsnachweis.
Ebenfalls von der Telefonseelsorge kommt das Angebot eines Hilfe-Chats. Die Anmeldung erfolgt auf der Website der Telefonseelsorge. Den Chatraum kann man auch ohne vereinbarten Termin betreten. Sollte kein Berater frei sein, klappt es in jedem Fall mit einem gebuchten Termin.
Das dritte Angebot der Telefonseelsorge ist die Möglichkeit der E-Mail-Beratung. Auf der Seite der Telefonseelsorge melden Sie sich an und können Ihre Nachrichten schreiben und Antworten der Berater lesen. So taucht der E-Mail-Verkehr nicht in Ihren normalen Postfächern auf.