https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/psychisch-kranke-eltern-teil-3-mit-kindern-kann-ich-super-mit-mir-selbst-nicht-12733383.html

Psychisch kranke Eltern – Teil 3 : Mit Kindern kann ich super, mit mir selbst nicht

  • -Aktualisiert am

Sie wollte ihren Kindern immer eine schöne Kindheit bieten, sagt sie, und habe es nicht geschafft. Ihre Söhne neigen heute dazu, aggressiv zu sein. „Und die Leonie macht mich voll nach, meine Körperhaltung und so. Das macht mir Angst“ Bild: Kat Menschik

Kinder von psychisch kranken Eltern übernehmen häufig früh Verantwortung, stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück. Das Leid dieses Rollentauschs verfolgt sie oft ihr ganzes Leben. Im letzten von drei Teilen: Die Geschichte einer alkoholkranken Mutter.

          3 Min.

          Wenn der Ort ein Omen gewesen sein sollte, dann wahrscheinlich kein allzu gutes. Leonies Eltern waren Patienten in der Psychiatrie, als sie das Mädchen zeugten: die Mutter wegen ihrer Alkohol-, der Vater wegen seiner Drogensucht. Sie hatten sich in der Klinik kennen- und lieben gelernt. Niemand rechnete damit, dass Leonies Mutter Esther Cramm* gleich beim ersten Mal schwanger werden würde. Nicht nur, weil sie mit Ende 30 nicht mehr die Jüngste war. Sie wog zudem aufgrund einer Essstörung nur noch 45 Kilogramm - keine besonders fruchtbaren Voraussetzungen, eigentlich. Doch dann bekam Cramm zu ihren drei Söhnen noch eine Tochter.

          Leonie* ist heute zwei Jahre alt; ein fröhliches Mädchen mit Locken und großen dunklen Augen. Ihre Eltern schlossen die Therapie ab, bevor Leonie auf die Welt kam. Sie zogen in eine gemeinsame Wohnung. Alles sah gut aus: Esther Cramm brauchte den Alkohol nicht mehr, um den Alltag zu überstehen, und mit der Essstörung kam sie irgendwie klar. Doch Leonies Vater veränderte sich bald zum Negativen. Sein Drogenkonsum löste eine Schizophrenie aus.

          Cramm redet sehr schnell und doch reflektiert; man ahnt, wie viele Therapeuten schon mit ihr gesprochen haben müssen. „Alkohol“, sagt sie, „hat schon immer eine Rolle in meinem Leben gespielt.“ Besonders schlimm wurde es 2008, als ihr dritter Sohn auf die Welt kam. „Ich war total überfordert.“ Einmal, als sie wieder zu viel getrunken hatte, rief sie die Väter der Jungs an und bat um Hilfe. Einer meldete sich beim Jugendamt. Der älteste Sohn, heute 13, lebt seitdem bei seinem Vater, die beiden mittleren, 6 und 9 Jahre alt, kamen in eine Einrichtung. „Danach hab’ ich nur noch getrunken“, sagt Cramm.

          Ihre Kleidung lässt die Vierzigjährige jünger wirken, als sie eigentlich ist. Cramm trägt eine Mütze über den geglätteten Haaren, einen weiten Pulli und schmale Leggins; sie wirkt zerbrechlich und unruhig. „Den Alkohol hasse ich eigentlich“, sagt sie. „Die Essstörung nicht so. Sie hilft mir, manche Situationen zu ertragen.“ Als Cramm bei der letzten Entlassung aus der Psychiatrie weniger wog als bei der Aufnahme, wurde das Jugendamt aufmerksam und stellte Bedingungen, unter denen Leonie bei ihrer Mutter bleiben könne. Zur Abklärung sollten die beiden in eine Wohngemeinschaft des Münchner Vereins „extra e.V.“ ziehen. Hierher kommen Mütter, bei denen unklar ist, ob sie alleine mit ihrem Nachwuchs leben können. Die meisten Mütter, die vorübergehend in der betreuten Wohngemeinschaft in München leben, waren heroin- oder alkoholabhängig. Viele kommen über das Jugendamt, nicht immer freiwillig.

          Keine Mutter-Kind-Bindung

          „Da steht dann schon einmal das Thema Kindeswohlgefährdung im Raum“, sagt die stellvertretende Leiterin Amalia Chatziriga. Die Psychologin und ihre Kollegen geben dem Amt nach einigen Monaten eine Empfehlung. Sorgt eine Mutter so gut für ihr Kind, dass sie mit ihm in einer eigenen Wohnung leben kann? Braucht sie Unterstützung, um den Alltag zu bewältigen? Oder schafft sie es im Extremfall nicht, von ihrem Suchtmittel zu lassen und auf ihr Kind zu achten, so dass es besser in einer Pflegefamilie aufgehoben wäre?

          Weitere Themen

          Wo die Gewalt beginnt

          Literatur der Armutsklasse : Wo die Gewalt beginnt

          In seinem Buch über die britische Armutsklasse zeigt D. Hunter Elend, Brutalität und Selbstzerstörung, ohne sie auszustellen. Er verbindet Biographie mit Theorie. Und versteht sein Schreiben auch als einen politischen Kampf.

          Die Royal Family des Schmucks

          Ole Lynggaard : Die Royal Family des Schmucks

          Ketten, Armbänder, Ohrringe tragen wir heute anders als vor 60 Jahren. Einige Marken von damals sind immer noch da – mit Nachkommen, die Traditionen weiterdrehen. So wie bei Ole Lynggaard aus Kopenhagen.

          Topmeldungen

          Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei der Vereidigung am Samstag mit seinem Kabinett in Ankara

          Türkisches Kabinett : Erdogans neue Mannschaft

          Mit der Ernennung von Mehmet Simsek zum Finanzminister zeigt sich der türkische Präsident offen für eine neue Wirtschaftspolitik. Nicht nur im Finanzressort signalisiert Erdogan mehr Pragmatismus.

          Großprotest in Warschau : Tusks Marsch der „Hoffnung“

          Im Streit um die „Lex Tusk“ der PiS-Regierung mobilisiert Polens Opposition für eine Kundgebung in Warschau Hunderttausende. Die Zuversicht für einen Regierungswechsel im Herbst wächst.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.