Psychisch kranke Eltern – Teil 3 : Mit Kindern kann ich super, mit mir selbst nicht
- -Aktualisiert am
Sie wollte ihren Kindern immer eine schöne Kindheit bieten, sagt sie, und habe es nicht geschafft. Ihre Söhne neigen heute dazu, aggressiv zu sein. „Und die Leonie macht mich voll nach, meine Körperhaltung und so. Das macht mir Angst“ Bild: Kat Menschik
Kinder von psychisch kranken Eltern übernehmen häufig früh Verantwortung, stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück. Das Leid dieses Rollentauschs verfolgt sie oft ihr ganzes Leben. Im letzten von drei Teilen: Die Geschichte einer alkoholkranken Mutter.
Wenn der Ort ein Omen gewesen sein sollte, dann wahrscheinlich kein allzu gutes. Leonies Eltern waren Patienten in der Psychiatrie, als sie das Mädchen zeugten: die Mutter wegen ihrer Alkohol-, der Vater wegen seiner Drogensucht. Sie hatten sich in der Klinik kennen- und lieben gelernt. Niemand rechnete damit, dass Leonies Mutter Esther Cramm* gleich beim ersten Mal schwanger werden würde. Nicht nur, weil sie mit Ende 30 nicht mehr die Jüngste war. Sie wog zudem aufgrund einer Essstörung nur noch 45 Kilogramm - keine besonders fruchtbaren Voraussetzungen, eigentlich. Doch dann bekam Cramm zu ihren drei Söhnen noch eine Tochter.
Leonie* ist heute zwei Jahre alt; ein fröhliches Mädchen mit Locken und großen dunklen Augen. Ihre Eltern schlossen die Therapie ab, bevor Leonie auf die Welt kam. Sie zogen in eine gemeinsame Wohnung. Alles sah gut aus: Esther Cramm brauchte den Alkohol nicht mehr, um den Alltag zu überstehen, und mit der Essstörung kam sie irgendwie klar. Doch Leonies Vater veränderte sich bald zum Negativen. Sein Drogenkonsum löste eine Schizophrenie aus.
Cramm redet sehr schnell und doch reflektiert; man ahnt, wie viele Therapeuten schon mit ihr gesprochen haben müssen. „Alkohol“, sagt sie, „hat schon immer eine Rolle in meinem Leben gespielt.“ Besonders schlimm wurde es 2008, als ihr dritter Sohn auf die Welt kam. „Ich war total überfordert.“ Einmal, als sie wieder zu viel getrunken hatte, rief sie die Väter der Jungs an und bat um Hilfe. Einer meldete sich beim Jugendamt. Der älteste Sohn, heute 13, lebt seitdem bei seinem Vater, die beiden mittleren, 6 und 9 Jahre alt, kamen in eine Einrichtung. „Danach hab’ ich nur noch getrunken“, sagt Cramm.
Ihre Kleidung lässt die Vierzigjährige jünger wirken, als sie eigentlich ist. Cramm trägt eine Mütze über den geglätteten Haaren, einen weiten Pulli und schmale Leggins; sie wirkt zerbrechlich und unruhig. „Den Alkohol hasse ich eigentlich“, sagt sie. „Die Essstörung nicht so. Sie hilft mir, manche Situationen zu ertragen.“ Als Cramm bei der letzten Entlassung aus der Psychiatrie weniger wog als bei der Aufnahme, wurde das Jugendamt aufmerksam und stellte Bedingungen, unter denen Leonie bei ihrer Mutter bleiben könne. Zur Abklärung sollten die beiden in eine Wohngemeinschaft des Münchner Vereins „extra e.V.“ ziehen. Hierher kommen Mütter, bei denen unklar ist, ob sie alleine mit ihrem Nachwuchs leben können. Die meisten Mütter, die vorübergehend in der betreuten Wohngemeinschaft in München leben, waren heroin- oder alkoholabhängig. Viele kommen über das Jugendamt, nicht immer freiwillig.
Keine Mutter-Kind-Bindung
„Da steht dann schon einmal das Thema Kindeswohlgefährdung im Raum“, sagt die stellvertretende Leiterin Amalia Chatziriga. Die Psychologin und ihre Kollegen geben dem Amt nach einigen Monaten eine Empfehlung. Sorgt eine Mutter so gut für ihr Kind, dass sie mit ihm in einer eigenen Wohnung leben kann? Braucht sie Unterstützung, um den Alltag zu bewältigen? Oder schafft sie es im Extremfall nicht, von ihrem Suchtmittel zu lassen und auf ihr Kind zu achten, so dass es besser in einer Pflegefamilie aufgehoben wäre?