Psychisch kranke Eltern – Teil 2 : Mama, lass es sein
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Entfremdet: Das Verhältnis von Mutter und Tochter war nicht mehr dasselbe, nachdem die Mutter ein halbes Jahr in der Klinik verbracht hatte. Bild: Kat Menschik
Kinder von psychisch kranken Eltern übernehmen häufig früh Verantwortung, stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück. Das Leid dieses Rollentauschs verfolgt sie oft ihr ganzes Leben. Im zweiten von drei Teilen: Die Geschichte von Leyla und ihrer Mutter.
Leyla* strahlt noch immer, wenn sie von ihrem Aufenthalt in der psychosomatischen Klinik erzählt. Fünf Wochen lang war die Achtjährige mit ihrer Mutter auf „Rehakur“, wie sie es nennt. „Die Mama wollte da beraten werden, was sie in ihrem neuen Leben besser machen könnte als im alten.“ Und während Silke Schaffer* in der Therapie über ihre Depressionen und Ängste sprechen konnte, spielten Betreuer mit Leyla. „Seit wir wieder daheim sind“, sagt Leyla, „geht’s der Mama viel besser.“ Jetzt kann ihre Mutter endlich wieder mitlachen, wenn Leyla Witze erzählt. Das war lange Zeit anders. In drei Kliniken war Silke Schaffer innerhalb der vergangenen Jahre: Psychiatrie, Tagesklinik, psychosomatische Klinik.
Leyla ist in vielen Bereichen ein Mädchen wie alle anderen in diesem Alter, in manchen unterscheidet sie sich aber sehr. Zum Beispiel wenn sie Dinge sagt, die nicht nach einer Grundschülerin klingen: „Manchmal ist die Mama hektisch, manchmal nett, manchmal traurig. Der Wechsel ist nicht so einfach für mich, aber ich werde versuchen, mich daran zu gewöhnen.“ Als Silke Schaffer diese Worte hört, lächelt sie ihre Tochter an - und fragt sich im selben Augenblick: Ist es wirklich gut, dass eine Achtjährige schon so redet?
Schaffer war 44, als ihre Tochter zur Welt kam. Ein Wunschkind, sagt sie. Ihr Kinderwunsch sei erst aufgekommen, als es schon fast zu spät war. Die Lektorin war es immer gewohnt, viel zu arbeiten. Nach Leylas Geburt änderte sich das: Statt Aufträge zu erledigen und Geld zu verdienen, lebte sie als Hausfrau und Mutter. Leyla war erst wenige Monate alt, als sich ihre Eltern nach sieben Jahren Beziehung trennten. Schaffer musste mit ihrer Tochter in eine kleine Wohnung ziehen und zum ersten Mal Hartz 4 beantragen. „Das war mir so peinlich“, erzählt die Akademikerin, „ich habe den Antrag wochenlang vor mir hergeschoben.“
„Du gehst zum Papa, alles ist gut“
Vater, Mutter, Kind - so hatte sich Silke Schaffer ihre kleine Familie immer vorgestellt. Doch die war nun nicht mehr komplett. Von den Freunden, die sie und ihr Partner vor Leylas Geburt hatten, blieben keine mehr übrig. Die anderen Paare hatten entweder keine oder längst große Kinder. Den Kontakt zu Leylas Vater brach Schaffer zunächst ab. Babysitter oder Kinobesuche konnte sie sich nicht leisten. Wenn Leyla schlief, arbeitete sie von zu Hause aus. Die Aufträge wurden wieder mehr, bis plötzlich ein großer Kunde wegbrach.
Schaffer bekam Angst vor der Dunkelheit und dem Alleinsein. Sie fühlte sich überfordert. „Jeden Morgen bin ich aufgewacht mit dem Gedanken, wie schaffe ich bloß diesen Tag?“ Irgendwann schaffte sie es dann nicht einmal mehr, aufzustehen. Sie lag auf dem Badezimmerboden und weinte. So sollte, so durfte ihr Kind sie nicht sehen. Schaffer rief den Vater an, der die gemeinsame Tochter in den Kindergarten und die Mutter in die Psychiatrie brachte. „Ich muss jetzt ins Krankenhaus“, erzählte sie, „und du gehst zum Papa, alles ist gut.“
Leyla war Feuer und Flamme. Beim Vater, erzählt die Mutter, sei das Mädchen die Prinzessin, dürfe alles, bekomme keine Grenzen gesetzt. Keiner ahnte, dass aus einem Klinikaufenthalt letztlich drei würden, aus wenigen Wochen fast ein halbes Jahr. Als Leyla nach einiger Zeit das erste Mal zu Besuch in der Psychiatrie war, sei die damals Fünfjährige nicht gerade herzlich gewesen. „Unser Verhältnis in dieser Zeit war nicht sehr nah“, sagt Schaffer. Auch das Zusammenleben nach den Klinikaufenthalten war schwierig. „Ich habe versucht, Leyla gut zu versorgen, Spiele zu machen, lustig zu sein. Aber eigentlich war mir alles noch zu viel.“ Dazu kam die Angst, dass alles so werden würde wie in ihrer eigenen Kindheit. Ihr Gedanke: „Meine Großmutter depressiv, meine Mutter depressiv, ich depressiv. Na toll.“
Die Alarmglocken sind nicht mehr so laut
Schaffers Vater arbeitete lange im Ausland. Die Mutter habe sich in ihrer Einsamkeit an ihr, einem kleinen Kind, festgehalten. Eine fatale Enge, die sich bei Leyla auf keinen Fall wiederholen sollte. „Ich hatte nach der Psychiatrie 1000 Alarmglocken läuten“, sagt Schaffer. Sie sind immer noch zu hören, etwa wenn Leyla erzählt, dass sie sich viel um ihre Mama kümmere, damit die nicht mehr ins Krankenhaus müsse. Aber die Glocken sind längst nicht mehr so laut.
Schaffer geht es deutlich besser als noch vor einigen Monaten. Im Frühjahr will sie wieder anfangen zu arbeiten. Wer Mutter und Tochter heute sieht, kann sich kaum vorstellen, dass diese Beziehung einmal distanziert gewesen sein soll. „Ich merke, dass die Mama wieder mehr kuscheln mag, Party machen oder Filme schauen“, sagt Leyla, als Silke Schaffer gerade nicht mit im Raum ist. „Früher hat sie immer nur gesagt, ich soll Musik hören und mich selbst beschäftigen.“ Geholfen hat beiden auch das deutschlandweit einzigartige Projekt „Lebensräume“ der Inneren Mission München. Eine Art Tagesstätte, die sowohl psychisch erkrankten Eltern als auch deren Kindern offensteht.
Silke und Leyla kommen mehrmals in der Woche in die alte Villa, um gemeinsam mit anderen zu kochen, zu basteln, Zeit zu verbringen. Zu dem Angebot gehören auch Gespräche mit Fachleuten. Von ihnen hat Schaffer vor allem das Konzept der Achtsamkeit mitgenommen: Alles bewusster und langsamer machen, nicht mehr hetzen. Auch Leyla kennt das Prinzip inzwischen gut. Will ihre Mutter wie neulich abends noch etwas erledigen, sagt Leyla: „Nein, Mama, jetzt ist es zu spät, du lässt es sein. Sonst regst du dich wieder auf, und das ist gar nicht gut.“ Hätte Leyla jetzt zu Weihnachten einen Wunsch frei, würde sie mit ihrer Mutter wegfahren, ans Meer. „Wir haben noch nie richtig Urlaub gemacht“, sagt sie. „Außer in der Rehakur.“
Christine Ann Lawson: Borderline-Mütter und ihre Kinder. Psychosozial-Verlag Gießen, 2011, 24,90 Euro
„Das ist ja mein Leben!“ – Als das Buch der klinischen Sozialarbeiterin aus den Vereinigten Staaten 2006 zum ersten Mal auf Deutsch erschien, war es für viele Kinder von „Borderline-Müttern“ wie eine Offenbarung: Es gab bis dahin nichts Vergleichbares. Die Autorin unterscheidet aufgrund der vielschichtigen Symptomatik der Persönlichkeitsstörung vier Typen („Verwahrlostes Kind“, „Einsiedlerin“, „Königin“ und „Hexe“), beschreibt – auch anhand von Fallbeispielen – die Auswirkungen ihres Verhaltens auf Kinder und wie diese als Erwachsene zu einem heilsamen Weg finden können, damit umzugehen.
Jana Reich (Hrsg.): Übersehene Kinder. Marta Press Verlag Hamburg, 2013, 34,80 Euro
Von der inneren Emigration oder Selbstbetäubung bis zum Impuls, die eigene Mutter zu töten: Erstmals schildern auf mehr als 500 Seiten 32 Töchter von Müttern mit Borderline ihre schwierige Kindheit, welche Strategien ihnen „damals“ geholfen haben zu überleben und das Ringen um eine Beziehung, die nie „normal“ sein wird. Es sind Einblicke in eine verstörende Welt, deren Bewältigung Respekt abverlangt.
Albert Lenz und Eva Brockmann: Kinder psychisch kranker Eltern stärken. Hogrefe Verlag Göttingen, 2013, 16,95 Euro
Kinder psychisch kranker Eltern brauchen Unterstützung –und erbitten sie selten direkt. Lehrer und Erzieher erhalten in diesem Taschenbuch anschauliche Hinweise, welche Äußerungen und Verhaltensänderungen auf eine entsprechende Belastungssituation hinweisen könnten und wie sie am besten Hilfestellung leisten. Für Partner und Verwandte besonders aufschlussreich sind die Anregungen, auf welche Weise sich die Resilienz, die seelische Widerstandskraft der Kinder, stärken lässt. Der klinische Psychologe Prof. Albert Lenz gehört zu den profiliertesten deutschen Forschern auf diesem Gebiet.
Angela Plass und Silke Wiegang-Grefe: Kinder psychisch kranker Eltern. Beltz Verlag Weinheim, 2012, 34,95 Euro
Was genau passiert bei der „Parentifizierung“, wenn Kinder aufgrund der psychischen Erkrankung eines Elternteils nicht länger Kind sein dürfen, sondern die Bedürfnisse der Erwachsenen erfüllen müssen? Wie unterschiedlich wirken sich Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen, Depressionen oder Psychosen auf Kinder aus? Welche präventiven und therapeutischen Ansätze gibt es? Ein wissenschaftliches und doch gut verständliches Buch, das sich deshalb nicht nur an Fachleute wendet.
www.psychiatrie.de
Allgemeine Informationen, Broschüren und Literatur für Kinder sowie Veranstaltungen zum Thema finden sich auf der Website des Dachverbandes Gemeindepsychiatrie (dort auch unter „Familien-Selbsthilfe Psychiatrie“). Gelistet sind zudem Projektgruppen in den verschiedenen Bundesländern.