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Medizinisches Cannabis : Hype um den Hanf

Hält medizinisches Cannabis, was er verspricht? (Symbolbild) Bild: dpa

Seit über einem Jahr gibt es in Deutschland Cannabis auf Rezept. Doch die Techniker Krankenkasse zweifelt in ihrem am Donnerstag vorgestellten „Cannabis-Report“ an, dass der Hanf den Patienten wirklich hilft.

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          So gut der Tag für die Befürworter von Cannabis war, so schlecht lief er für die Krankenkassen. Mehr als ein Jahr ist es jetzt her, dass die damalige Koalition aus Union und SPD beschlossen hat, das Arzneimittelrecht in einem entscheidenden Punkt zu ändern. Seit dem 1. März 2017 können Patienten in Deutschland Cannabis auf Rezept bekommen – verschrieben vom Arzt, bezahlt von Kasse. Schon damals zeigten sich die Krankenkassen skeptisch, ob die neuen Ausgaben, zu denen die Politik sie da verdonnert hat, den Betroffenen überhaupt etwas bringen. Denn der Einsatz von Gras in der Medizin ist stark umstritten.

          Kim Björn Becker
          Redakteur in der Politik.

          In diesem Streit hat die größte deutsche Kasse nun nachgelegt. Die Techniker Krankenkasse (TK) hat am Donnerstag in Berlin ihren „Cannabis-Report“ vorgestellt – um die Debatte „wieder zu versachlichen“, wie TK-Chef Jens Baas sagte. Der sieht in der gegenwärtigen Diskussion um den Hand einen „Hype“, der die Nebenwirkungen weitgehend außer Acht lasse. Tatsächlich liest sich der 89 Seiten umfassende Bericht, den die Kasse zusammen mit der Universität Bremen erarbeitet hat, in weiten Teilen wie eine Abrechnung mit der gesundheitspolitischen Entscheidung in der zurückliegenden Legislaturperiode.

          Der Bericht liefert einen Überblick über die 140 vorliegenden Studien, die wissenschaftlichen Kriterien genügen und über die Wirksamkeit von Cannabis Aufschluss geben. Keinerlei Wirksamkeit bescheinigt der Report Cannabis bei mehreren psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Psychosen und Demenz, aber auch chronischen Darmerkrankungen. Auch bei der Augenkrankheit Grüner Star (Glaukom), von den Befürwortern des Medizinalhanfs gerne als Beispiel einer gelungenen Anwendung ins Feld geführt, zeigte sich aus der Sicht der Kasse in den vorliegenden Studien keinerlei Wirksamkeit.

          „Mögliche“ Wirkung bei psychischen Erkrankungen wie Angststörungen

          Im besten Fall, so legt der Report dar, sei eine positive Wirkung von Cannabis „denkbar“ bei chronischen Schmerzen sowie zur Linderung von Übelkeit, die eine häufige Folge von Chemotherapien in der Krebsbehandlung ist. Auch kann Cannabis Aids-Patienten dabei helfen, den Appetit anzuregen. Schließlich bestehe eine mögliche Wirksamkeit bei der Linderung von Muskelkrämpfen, etwa infolge einer Erkrankung mit Multipler Sklerose, sowie bei Epilepsie. Eine lediglich „mögliche“ Wirkung zeigten die Studien bei psychischen Erkrankungen wie Angst- und Schlafstörungen, dem Tourette-Syndrom oder der Aufmerksamkeitsstörung ADHS. „Wunder sind von Cannabis in den verschiedenen Indikationen offensichtlich nicht zu erwarten“, resümiert der Bericht.

          Baas sagte, er wünsche sich „einen normaleren Umgang mit dem Thema“. Nicht normal ist für ihn zum Beispiel der Umstand, dass Cannabis vom Gesetzgeber anders behandelt werde als andere Arzneimittel. Denn ehe ein Medikament von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wird, muss der Hersteller nachweisen, dass es wirkt – will er einen hohen Preis erzielen, müssen Studien sogar eine bessere Wirksamkeit im Vergleich zur bisherigen Therapien belegen. Dieses Verfahren habe die Politik bei Cannabis „umgangen“, kritisiert Baas, „trotz der unbefriedigenden Studienlage und der geringen Evidenz“. Baas forderte, dass Cannabis nicht anders behandelt werden sollte als andere Arzneimittel auch. Es sei „unklar, welchen Patientengruppen Cannabis in welcher Dosis hilft und wie es am besten verabreicht werden sollte“, sagte der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske von der Universität Bremen, einer der Autoren des Reports.

          Das ändert allerdings nicht daran, dass die Kassen in vielen Fällen für die Kosten aufkommen müssen, denn eine unzureichende Studienlage ist aus Sicht des Gesetzgebers beim Hanf kein Ablehnungsgrund. Im ersten Jahr nach der Freigabe von medizinischem Cannabis sind bei der TK nach deren Angaben 2900 Anträge auf Kostenerstattung eingegangen, etwa zwei Drittel hat die Kasse genehmigt und in der Folge Cannabisblüten und entsprechende Arzneimittel im Wert von zusammen 2,3 Millionen Euro bezahlt. Wenn die Kasse abgelehnt hat, dann meist unter Verweis auf alternative Medikamente. Die monatlichen Therapiekosten von Cannabisblüten liegen zwischen 300 und 2200 Euro pro Patient, deutlich günstiger sind Kapseln und Tropfen, die den verwandten Wirkstoff Dronabinol enthalten – bei diesen Rezepturen, die in der Apotheke hergestellt werden, liegen die Kosten zwischen 70 und 500 Euro pro Monat. Die Fertigarzneimittel Sativex und Canemes kosten die Kasse zwischen 31 und 2000 Euro pro Patient und Monat.

          Zugleich widerlegt der Report die von Cannabis-Gegnern gern geäußerte Behauptung, dass die Reform des Arzneimittelrechts vor allem jugendlichen Kiffern nütze, die sich seitdem auf Kosten der Gemeinschaft mit Gras versorgen können. Das Gegenteil ist der Fall. Von allen TK-Versicherten, die eine Cannabis-Verordnung vom Arzt bekamen, waren nur gut drei Prozent jünger als 20 Jahre, die Hälfte waren zwischen 40 und 59 Jahren alt. Heruntergerechnet auf je 100 000 Versicherte wurde Cannabis vor allem im Süden der Republik besonders häufig verschrieben – noch vor Bayern und Baden-Württemberg rangierte allerdings das Saarland auf dem Spitzenplatz, nirgendwo sonst reichten mehr TK-Versicherte (209 von 100 000) ein Cannabis-Rezept vom Arzt ein. Aus Rheinland-Pfalz, Hessen und Ostdeutschland kamen hingegen die wenigsten Verordnungen

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