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Kommentar : Germany’s Last Topmodel

Heidis 23 Topmodels bei „Germany’s next Topmodel - by Heidi Klum“ Bild: obs

Casting als Ritual. Mädchen träumen davon, Model zu werden und tun dafür alles. Und unterstützen damit ein repressives System, das nicht nur im Fernsehen, sondern auch in den sozialen Medien eine Bühne findet.

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          Und wieder wird gecastet. Es ist ein Ritual, dem sich Mädchen nur allzu gern unterwerfen: anstehen, hoffen, warten, auftreten - und scheitern. Denn von den Tausenden, die sich in den vergangenen Wochen für die nächste Staffel von „Germany’s Next Topmodel“ beworben haben, wird gerade einmal eine durchkommen. In diesem Fall heißt das aber nur, bei Heidi Klum, der Zuchtmeisterin der Sendung, Erfolg zu haben. Fürs wirkliche Leben wäre es besser, man würde möglichst früh scheitern, damit man in der Wirklichkeit weiterkommt - und nicht nur in der Vorstellung.

          Alfons Kaiser
          Verantwortlicher Redakteur für das Ressort „Deutschland und die Welt“ und das Frankfurter Allgemeine Magazin.

          Will man das alles 13 Jahre alten Mädchen erklären, die von großen Bühnen und globalem Zuspruch träumen? Man muss darüber heute sogar schon mit Neunjährigen sprechen, die ihr vorpubertär sensibles Selbstwertgefühl mit glamourösen Rollenvorbildern aufhübschen möchten.

          Zwei Nachrichten machen Hoffnung

          Zwei Nachrichten aus dieser Woche sollten Heidi Klums Format, das gerade wieder vorbereitet wird und in wenigen Monaten wieder startet, den Rest geben. Moderatorin Tyra Banks hat das Ende von „America’s Next Topmodel“ bekanntgegeben - nach 22 Staffeln ist Schluss mit der inzwischen ausgelatschten Urmutter aller Model-Casting-Sendungen. Und die Shell-Jugendstudie hat ergeben, dass inzwischen buchstäblich alle Jugendlichen im Internet sind. In der Post-Facebook-Generation bedeutet das: in Netzwerken und Chat-Diensten wie Instagram, Whatsapp oder Snapchat.

          Mit dramaturgischen Kniffen und schrillen Tönen hat Heidi Klum, die 2006 begann, das Ableben des Fernsehformats im Internet-Zeitalter hinausgezögert. Juror Wolfgang Joop, der nun nicht mehr mitmacht, gab der unwürdigen Sendung vorübergehend sogar ein menschliches Gesicht. Aber es hilft nichts: Die gefährliche „Challenge“ muss aufhören - und zwar bald.

          Aus der Mode gekommen

          Das Format ist gleich aus mehreren Gründen aus der Zeit gefallen. So produziert die Sendung schon seit Jahren Models am Markt vorbei. Jede Teilnehmerin müsste inzwischen wissen, dass es nicht viel bringt, hier zu gewinnen. Man erkennt die fehlgeleitete Energie schon bei einem Blick auf die gerade abgelaufene Schauensaison. Das Ideal in Paris ist nicht das stromlinienförmige Supermodel, sondern ein Mädchen neuen Typs, dem Kräuselhaare, Schlupflider, dicke Augenbrauen oder abstehende Ohren nicht die Karriere verbauen, sondern im Gegenteil erst ermöglichen. Abweichendes Aussehen ist endlich erwünscht.

          Erst vergangene Woche wurde ein Anti-Modemacher Chefdesigner des Traditionshauses Balenciaga. Und auf den trendsetzenden Anzeigen der Marke Céline ist keine der vielen Lebensspuren der Protagonisten retuschiert. Die Luxuswelt, die so sehr von ihrer Ausstrahlung profitiert, hadert heute mit der blankpolierten Oberfläche. Trendmarken wissen, dass man nicht für den Mainstream, sondern auch gegen ihn arbeiten muss. Die typischen Mechanismen von der manipulierenden Retusche bis zur künstlichen Verknappung durchschauen heute auch schon Jugendliche, ohne sich so recht gegen sie wehren zu können.

          Seitdem die Werbeästhetik sich auch in journalistische und private Fotos einschleicht, reicht es eben nicht mehr, Hochglanzidealen zu genügen. Das Leitbild maximaler Verwertbarkeit, das Heidi Klum allzu lange gepredigt hat, ist längst korrumpiert.

          Sendung hat verheerende soziale Folgen

          Schlimmer als die inneren Widersprüche aber sind die verheerenden sozialen Folgen der Sendung. Die entwicklungspsychologisch fragilste Phase im Leben wird mittlerweile von einem kaum noch zu kontrollierenden Diskurs dominiert. Es geht um Schönheitsvorstellungen, Körpermaße und Ernährungsrichtlinien - in einer Intensität, die Eltern erschaudern lässt. Schon seit langem klagen Ärzte, die Anorexie und Bulimie behandeln, dass die neuen Leitbilder eine solche Bühne bekommen. Im Namen einer gefräßigen Branche aus Moderatoren, Sendern und Vermarktern werden viele Mädchen ausgehungert, bevor ihre Zukunft überhaupt begonnen hat.

          Auch das Lamento über „Germany’s Next Topmodel“ feiert nächstes Jahr Zehnjähriges. Ein Gegenbild zeigt heute, dass der modische und körperliche Dauervergleich auch spielerische Züge haben kann. Ausgerechnet Modemacher und Moderator Guido Maria Kretschmer hat Sendungen geschaffen, die ihren Spaß nicht daraus ziehen, andere bloßzustellen.

          Der Wettbewerb führt, unterfüttert mit kommerziellen Interessen, über abschätzige Bemerkungen zu einem repressiven System, dessen Bedingungen im Unterricht Thema sein sollten - und zwar schon in der Grundschule. Der Bedarf nach Aufklärung wird umso größer, je stärker nun eine neue Magersuchtindustrie aus den neuen sozialen Medien erwächst.

          Im Fernsehen waren die Diskurse immerhin noch öffentlich. Im privaten Chat, der sich nicht nur von 20.15 Uhr bis zum Schlafengehen erstreckt, sondern einen großen Teil der freien Zeit einnimmt, können sich Kinder leicht in vertraulichen Zirkeln verlieren. Wer kann diesen unendlichen Geschichten noch folgen? Wer durchblickt die soziale Verstärkung, die Fotodienste Hungernden liefern? Auf die Betreiber der Dienste jedenfalls sollten sich Eltern nicht verlassen.

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