Gesundheit : Passt besser auf euch auf, Jungs!
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Keine falsche Scham: „Schwäche zeigen“ gehört zum „Mann-Sein“ dazu. Bild: Imago
Gesundheit ist Sache der Frauen, das lernen Männer schon als Kind. Deshalb sind Jungs medizinisch schlechter versorgt als Mädchen, warnt der Arzt Bernhard Stier. Er findet: Auch Eltern haben eine Mitschuld.
Christoph ist 16 Jahre alt. Er sitzt mir an diesem Morgen in meinem Sprechzimmer gegenüber. Neben ihm sitzt seine besorgte Mutter. Christoph tut cool, ist es aber nicht. Unruhig wippt er mit seinen Füßen und schweigt. Zögerlich schaut er sich im Raum um. Erst nach einigen Minuten und meiner direkten Frage schildert er mir verlegen, dass sein Hoden seit etwa zwei Monaten vergrößert sei. Es sei plötzlich so gekommen, er könne sich das auch nicht erklären. Und schon fällt die Mutter ihrem Sohn ins Wort und versichert, sie habe erst am Tag zuvor davon erfahren. Auf ihr Drängen hin seien sie nun hier in meine Kinder- und Jugendarztpraxis gegangen.
Es ist eine Szene, die ich so ähnlich immer wieder in meinem Alltag erlebe. Kein Einzelfall in meiner Praxis, aber einer, der mich – nachdem Mutter und Sohn mein Sprechzimmer verlassen haben – wieder mal beunruhigt zurücklässt. Warum fällt es heranwachsenden Jungs so schwer, über ihre Beschwerden, ihre Gesundheit zu sprechen?
In den rund zehn Jahren, in denen ich mich als Kinder- und Jugendarzt mit dem Gesundheitsverhalten und den spezifischen Erkrankungen bei Jungen beschäftige, habe ich Besonderheiten, die sicher dem Jungen schon länger aufgefallen waren, häufig oft rein zufällig bei Vorsorgeuntersuchungen entdeckt oder nachdem Eltern, zumeist die Mütter, auf einen Besuch in meiner Praxis gedrängt hatten.
Ich erinnere mich an Michael, der sich lieber vor Scham beim Duschen im Bad einschloss und nur noch im Stehen Fahrrad gefahren ist, weil tumorbedingt der vergrößerte Hoden das Sitzen auf dem Sattel verhinderte. Aber über seine Schmerzen hat er weder mit seinen Eltern noch einem Arzt gesprochen.
Da war vor kurzem der zwölfjährige Sebastian, der mit schmerzverzerrtem Gesicht in meiner Praxis stand. Sebastian hatte das Wochenende zuvor mit heftigen Bauchschmerzen im Krankenhaus gelegen. Ein Magen-Darm-Infekt – eine Blinddarmentzündung konnte ausgeschlossen werden –, hieß es hinterher im Arztbrief. Doch nun war Sebastian schon zwei Tage zu Hause und hatte immer noch Schmerzen. Ich erinnerte mich bei seinem Anblick an das, was ich auch immer jungen Kollegen sage: Sprechen Jungs von Bauchschmerzen, sollte auch immer das äußere Genital untersucht werden. Man darf sich nicht darauf verlassen, dass der Junge einem darauf einen Hinweis gibt.
Seit Tagen war der Samenstrang verdreht
Also schaute ich mir Sebastians Hoden an und stellte fest: Er litt seit Tagen an einer Verdrehung des Samenstranges, einer schmerzhaften und gefährlichen Erkrankung, da der Hoden dabei zugrunde gehen kann. Tagelang hatte er offensichtlich, trotz erheblicher Beschwerden, niemandem erzählt, dass die Ursache seiner Schmerzen im Hodensack lokalisiert war und nicht im Bauch.
Noch schwieriger wird die Situation, wenn die Jungs Murat oder Mohammed heißen und ihre Eltern nicht aus Deutschland stammen. Dann stehen die Jungs manchmal voller Sorge alleine und unangemeldet in meiner Praxis und wollen mit mir sprechen und eine „gründliche Untersuchung“ haben.
Hinter den Geschichten von Christoph, Michael oder Sebastian verbirgt sich ein Versorgungsnotstand in Deutschland, den so niemand wahrnehmen will: Unsere Jungs kommen in der medizinischen Fürsorge gegenüber den Mädchen zu kurz. Um das zu ändern, braucht es einen Perspektivwechsel – von Vätern und Müttern, Ärzten, Gesellschaft und Politik. Alle schauen bisher bei Gesundheitsthemen vor allem auf die Mädchen.