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Die unterschätzte Droge : Alkohol tötet! Warum sagt das niemand?

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Wer heute noch behauptet, dass Rauchen schlank macht oder gut für die Verdauung ist, wird nicht mehr ernst genommen. Es hat sich herumgesprochen, dass derlei längst widerlegt ist und einst von der Tabakindustrie gezielt lanciert worden ist – bis hin zur Bestechung von Wissenschaftlern und der skrupellosen Fälschung medizinischer Studien. Beim Alkohol jedoch werden die Halb- und Unwahrheiten, die seit je die Sauferei legitimieren und das schlechte Gewissen beruhigen sollen, immer noch unbekümmert weitergegeben: Rotwein ist gut fürs Herz, Bier ist der beste Durstlöscher, ein Digestif hilft bei der Verdauung, ein Aperitif macht – das sagt der Name doch schon! – Appetit, und Alkohol hilft auch, besser zu schlafen. Nichts von alledem stimmt. Aber man glaubt es gern. Prösterchen!

Niemand versucht den Wahnsinn zu stoppen

Alkohol tötet. So einfach ist das. Sicher, dagegen regt sich gleich heftiger Widerspruch: Das kann man doch so nicht sagen! Tatsächlich? Wenn auf jeder Zigarettenschachtel steht, dass „Rauchen tötet“, widerspricht niemand mehr. Sagt man dagegen „Alkohol tötet“, gilt das als haarsträubende Übertreibung. Dabei ist es nicht mehr als eine Zuspitzung, die vermutlich auch notwendig ist, um ein Minimum an Aufmerksamkeit zu bekommen. Die braven Aufklärungskampagnen führen jedenfalls zu nichts. Ende Juni ging überall in Deutschland die jährliche „Aktionswoche Alkohol“ über die Bühne – und wieder hat’s keiner gemerkt.

Warum stoppt keiner den Wahnsinn? Warum dürfen Horden betrunkener Fußballfans am Wochenende ganze Züge in Beschlag nehmen? Warum dürfen Parteien und Fußballvereine für Wahlsieg und Meisterschaft massenhaft Freibier in Aussicht stellen? Wie kann es sein, dass altehrwürdige Gymnasien ihr Schulfest mit Bier und Wein (auch für Schüler ab 16 Jahren) feiern? Wieso wird in Deutschland auf Wein noch immer keine Alkoholsteuer erhoben? Es scheint niemanden zu stören, dass viele Sportvereine den Saisonabschluss mit Ballermann-Partys und Sangria-Eimern feiern und das öffentlich-rechtliche Fernsehen seine Sportberichterstattung am liebsten von Brauereien sponsern lässt.

Alkohol eignet sich nicht zum Aufreger

Wo bleibt die Empörung über den ganz alltäglichen Irrsinn in Deutschland, wo die Plakatwand links für Alkohol wirbt und die Plakatwand rechts vor Alkoholismus warnt, wo die Väter der E-Jugend am Spielfeldrand mit der Bierflasche in der Hand stehen, bevor dann der Trainer die neuen T-Shirts mit der Aufschrift „Keine Macht den Drogen“ verteilt? Das ist deutscher Alltag im Jahr 2015. Keiner stört sich dran, dass der Bundespräsident mit der offenen Bierflasche in der Hand den deutschen Fußballern gratuliert, und niemand findet was dabei, dass bayrische Unternehmen ihre Führungsriege zum kostspieligen Saufgelage aufs Oktoberfest einladen, wo man es mal richtig krachen lässt, sprich: Am Ende müssen alle betrunken sein, sonst war’s kein guter Abend. Wie selbstverständlich schweigen Berliner Journalisten über die Alkoholprobleme führender Politiker. Das ist beides, ein Gentleman’s Agreement und Selbstschutz, denn viele Journalisten hängen ja selbst an der Flasche. Dass Rainer Brüderle einen saudoofen Herrenwitz über die Figur einer Reporterin gemacht hat, wurde als politischer Skandal erster Klasse zelebriert; dass Brüderle und die Journalisten sich gemeinsam an der Bar betranken, interessierte kein Schwein.

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