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Soziale Isolation : Das Virus auf Distanz halten

Immer schön auf Abstand gehen: Nach der Devise stellen sich Kunden an einem Obstmarkt in Le Touquet, Nordfrankreich an. Bild: AFP

„Soziale Distanz“ als Zauberwort der Stunde: Die Kurve abflachen und zu Hause bleiben – die Botschaft hat sich rasend verbreitet. In London hingegen verfolgte man zuerst einen anderen Ansatz.

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          Kann man die Corona-Pandemie flach halten? Seit Tagen hört man von höchster Stelle und sieht man auf Grafiken dieses Wunschbild: „Flatten the curve“ – flacht die Kurve ab. Gemeint ist die Sars-CoV-2-Infektionskurve. Zuerst steil nach oben, dann wieder steil nach unten, das ist der Horror: Das Virus breitet sich exponentiell aus, und wenn viele infiziert und immun sind, geht die Zahl der Neuinfektionen wieder steil runter. Das wäre der natürliche Lauf der Dinge, die Folge: viele unnötige Todesopfer, weil alle Schwerkranken mehr oder weniger gleichzeitig behandelt werden müssen – unmöglich auch im besten Gesundheitssystem.

          Joachim Müller-Jung
          Redakteur im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“.

          Seitdem die Eindämmungs- und Isolierungsvorkehrungen greifen, die hierzulande bisher meist nur empfohlene Maßnahmen sind, expandiert der Erreger langsamer, die Kurve flacht ab. Und je mehr „soziale Distanz“ – das Zauberwort auch der Kanzlerin – eingehalten wird, desto langsamer steigt die Zahl der Infizierten weiter. Soweit die Mathematik, soweit die Epidemiologie. Die Formel lautet: Viel testen plus Kontakte rigoros ermitteln plus Quarantäne plus soziale Distanz plus freiwillige Selbstquarantäne.

          Dass es so gelingen kann, die Virus-Ausbreitung in der Bevölkerung zu strecken und die Zahl der Schwerkranken so lange wie möglich auf einem für Ärzte und Kliniken handhabbaren Level zu halten, kann man in Südkorea beobachten, einem Land mit vergleichbar modernem Gesundheitssystem und auch mit einer Corona-Sterberate klar unter einem Prozent. Am 29. Februar registrierte man 909 frisch Infizierte, die Gesamtzahl lag bei 3000. Am Sonntag zählte man nur noch 76 Neuinfizierte, die aufaddierte Zahl der Infizierten im Land lag bei 8162.

          Bild: F.A.Z., Esther Kim, Carl T. Bergstrom

          Südkorea erlebte den exponentiellen Teil des Kurvenanstiegs in der letzten Februar- und ersten Märzwoche. Gelingt es also auch in Deutschland, durch strikte Isolierung die Neuerkrankungszahlen zu drücken, werden nicht nur die Kliniken entlastet. Dann besteht auch Hoffnung, dass die Infektionszahlen bei entsprechenden Verhaltensänderungen, also bei fortgesetzter Hygiene und Distanzwahrung, einzuhegen sind. Und das Virus selbst könnte auf die jeweiligen Ausbruchsregionen mit vergleichsweise geringen Fallzahlen eingegrenzt werden.

          Aber wie lange wird das funktionieren? Das Virus wird nicht unbedingt wegen seiner Tödlichkeit gefürchtet, sondern weil es sich weiterhin so schnell und leicht vor allem über Tröpfcheninfektionen ausbreitet. Auch ist nicht sicher, ob trockene und wärmere Luft das Virus im Sommer stoppen wird. China rühmt sich, die Epidemie im Land durch rigide Quarantänen quasi im großen Stil gestoppt zu haben. Peking meldet kaum noch Neuerkrankungen. Ist das Virus bald ganz verschwunden in China? Vor allem: Können mit den im Rest der Welt eingeleiteten Isolierungsmaßnahmen ähnliche Erfolge erzielt werden?

          Und lässt sich so die Pandemie auf lange Sicht gar austrocknen? Die Epidemiologen haben bisher noch keine Antwort. Sie müssen angesichts der vielen Unbekannten bei dem Virus immer neu rechnen. Werden genug Personen getestet und Infizierte gemeldet? Und wie steht es um die Immunität nach einer Infektion?

          Diese Frage ganz besonders führt seit dem Wochenende zu Unsicherheit auf der britischen Insel. Die Regierung Boris Johnson verfolgte nach Aussagen vieler Epidemiologen im Land eine riskantere Strategie: Weil auf absehbare Zeit kein Impfstoff zur Verfügung steht, hieß das Ziel nicht radikale Eindämmung, sondern immunologisches Corona-Management: Schutz durch Herdenimmunität (*Update siehe unten). Ein Phänomen, das bei Impfungen funktioniert: Wenn genug Menschen immun gegen den Erreger sind, weil sie sich angesteckt haben und selbst genug Antikörper gebildet haben, um gesund zu bleiben, findet das Virus nicht mehr genügend empfindliche Opfer – und es verschwindet.

          Mit Herdenimmunität schützt man Neugeborene, die noch keinen Immunschutz haben, und gebrechliche Menschen. Deshalb sollten sich, so die Vorstellung Londons, anfangs möglichst viele immunologisch gesunde Menschen mit Sars-CoV-2 anstecken, so dass sie bald durch ihre eigenen Antikörper geschützt sind – Immunität nach der Infektion. Mit Herdenimmunität kann man bei diesem Virus, so lauten die noch sehr lückenhaften und sehr groben Schätzung, bei 40 bis 80 Prozent „Durchseuchung“ der Bevölkerung rechnen. Nur: Wie will man das kommunizieren, ohne die Kontrolle zu verlieren? Zudem ist die Zahl von Risikopersonen gewaltig – auch oder gerade in westlichen Ländern. In die Rechnung der kontrollierten Virenausbreitung fließen also viele Unbekannten ein. So bleibt unklar, ob die anfälligen älteren und chronisch kranken Personen über Wochen oder Monate so rigoros abgeschirmt werden können, wie man sich das offenbar in London vorstellt.

          * Update: Deshalb hat die Regierung in London auf Druck von 200 Wissenschaftlern, die sich in einer Unterschriftenliste gegen die Johnson-Strategie wandten, ihren Entschluss überdacht. Auch sie setzt jetzt offenbar erst einmal verstärkt auf soziale Distanz und Isolation, es werden Veranstaltungen abgesagt und die Selbstquarantäne-Vorschriften für Kontaktpersonen von betroffenen Familien verschärft.

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