Psychiatrie und Pandemie : „Die Gewalttätigkeit hat zugenommen“
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Charité-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie: „Die strengen Regeln und die Isolation waren für viele Patienten belastend.“ Bild: dpa
Die Wirkung der Pandemie zeigt sich auch in den Psychiatrien. Dass dort danach aber mehr Patienten behandelt werden müssen, sieht ein Professor der Charité noch nicht.
Herr Professor Heinz, Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, hat 2021 kritisiert, dass die Politik nicht ausreichend abwäge, wie viel Leid durch die Corona-Maßnahmen einerseits verhindert, aber andererseits auch verursacht würde. Sehen Sie das ähnlich?
Ich glaube schon, dass die Politik das gründlich abwägt. Herr Hegerl hat angesprochen, dass Vereinsamung und soziale Isolation Belastungsfaktoren für die Psyche sind. Dem ist zuzustimmen. Aber dass das nicht hinreichend bedacht wird, ist eine etwas gewagte Aussage.
Im Corona-Expertenrat sitzt niemand aus dem Fachbereich Psychiatrie. Ist das kein Fehler?
Grundsätzlich finde ich es immer gut, wenn unser Fachbereich vertreten ist. Aber ich kenne die Experten von der Charité in dem Rat – und habe volles Vertrauen, dass sie auch in diesem Bereich sensibel sind.
Bei Jugendlichen kam es laut einer unveröffentlichten Studie während des zweiten Lockdowns zu mehr Suizidversuchen – und bei Erwachsenen?
Am Anfang der Pandemie hatte ich diese Befürchtung, weil soziale Vereinsamung ein massiver psychischer Belastungsfaktor ist. Die Zahlen aus den ersten Lockdowns haben das bei Erwachsenen aber nicht bestätigt. Allerdings haben wir schon viele Menschen gesehen, die wegen der Situation massiv belastet waren. Und wir mussten Behandlungskapazitäten abgeben, um Platz für Covid-Erkrankte zu schaffen – auch hier in der Charité. Die Versorgungslage in vielen Krankenhäusern ist schlechter geworden, weil man weniger Kapazitäten für Nicht-Covid-Patienten hatte. Wir mussten zeitweise sogar etwa ein Drittel unserer Bettenkapazität abgeben.
Welche Auswirkung hatte die Pandemie sonst auf die Behandlungssituation?
Es gab mehrfach einen Besucherstopp, um Infektionswege ins Haus zu verhindern, von dem waren nur Minderjährige und die Schwerkranken ausgenommen. Das haben wir bei den psychisch Kranken in deren Sinne ausgelegt. Trotzdem waren die strengen Regeln und die Isolation für viele Patienten belastend – genau wie die Maskenpflicht auf den Fluren. Da sind Konflikte entstanden, die es sonst gar nicht geben würde. Ich bin zum ersten Mal in meinem vierzigjährigen Berufsleben massiv körperlich angegriffen worden. Die ganze Eskalation hatte mit den Corona-Maßnahmen zu tun: Wenn ein manischer Patient mir erzählen will, wie er gerade den Kosmos erobert, gibt es normalerweise keinen Konflikt. Aber wenn er seine Maske auszieht, um uns das besser erklären zu können, muss man zum Schutz der anderen Patienten etwas sagen. Aus so einem relativ begrenzten Konflikt entspinnt sich dann eine komplexe Auseinandersetzung.
Musste öfter zu Zwangsmaßnahmen gegriffen werden?
In Berlin versuchen wir eigentlich, auch auf Akutstationen die Tür so oft wie möglich offen zu lassen. Selbst wenn Patienten gegen ihren Willen untergebracht sind, reicht es normalerweise, wenn sie intensiv betreut werden. So senken wir die Zahl der Zwangsmaßnahmen. Das ist mit einer Türpolitik, die Corona-Besuchsregeln kontrollieren muss, kaum mehr möglich. In der Folge hatten wir bei uns den Eindruck, dass die Zahl der Gewalttätigkeiten und der dadurch bedingten Zwangsmaßnahmen wieder zugenommen hat. Aber der Wert ist nach wie vor niedrig, wir kommen auf ein bis drei Prozent Zwangsmaßnahmen unter allen behandelten Patienten. Der weit überwiegende Teil der Patienten kommt freiwillig in die Psychiatrie und hat mit Gewalt und Zwang überhaupt nichts zu tun.
Spielen Pandemie-Maßnahmen eine Rolle in Wahnvorstellungen der Patienten?
Viele psychotische Erfahrungen sind sehr persönlich gefärbt, da fließen Erfahrungen aus dem aktuellen Zeitgeschehen rein. Das zeigt sich auch bei Ängsten und im Grübelzwang.
Müsste es so etwas wie Inzidenzen für psychische Krankheiten geben – und politische Reaktionen, wenn die Zahlen steigen?
Solche Zahlen sind schwieriger zu erheben, weil wir nicht so einen einfach ablesbaren Test haben wie den PCR-Test. Psychische Störungen reichen ja von Demenzerkrankungen bis hin zu sozialen Phobien vor größeren Menschenmengen. Das ist ein ganz breites Spektrum. Der Begriff Erkrankung ist traditionell den schweren psychischen Störungen vorbehalten, den Psychosen zum Beispiel. Da wäre es wichtig, zu sehen, wie sich das über die Zeit verändert.
Sie verfolgen da schon erste Ansätze.
Wir planen gerade mit Angehörigen und Betroffenen im Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit, kontinuierlich Daten über die psychische Gesundheit einer repräsentativen Menge an Menschen zu erfassen – um dann zu sehen, wie sich Faktoren wie der Klimawandel oder andere Ereignisse da widerspiegeln. Man weiß zum Beispiel schon, dass psychische Erkrankungen massiv von ökonomischen Faktoren abhängen. Einer der wichtigsten Prädiktoren für die Zahl psychischer Erkrankungen weltweit ist zum Beispiel die Schere zwischen Arm und Reich. Da würden wir gerne noch mehr wissen.
Erwarten Sie nach der Pandemie eine Welle von psychischen Krankheiten?
Man muss sicher sehr auf Kinder- und Jugendpsychiatrien schauen. Im Erwachsenenbereich haben wir keinen linearen Anstieg der Bedürfnisse nach Behandlung gesehen. Es ist schwer zu sagen, wie sich das entwickelt. Soziale Isolation ist ein wesentlicher Krankheitsfaktor, auf der anderen Seite sind bei uns Menschen immer die Faktoren am wirkmächtigsten, die nur uns persönlich betreffen und andere nicht. Wenn jemand rassistisch angegriffen wird, ist das Risiko für eine posttraumatische Belastungsstörung hoch – bei einem Tsunami, der alle gleich trifft, ist die individuelle Krankheitslast dagegen nicht so hoch. Da ist eine Pandemie eigentlich eher dem zweiten Bereich zuzuordnen. Deswegen bleibt abzuwarten, welcher Effekt überwiegt.