Coronavirus in China : Eine Stadt sucht ihre Mörder
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Freiwillige helfen bei der Versorgung von Bewohnern in Chinas Stadt Nanchang. Bild: dpa
Während in Wuhan die Zahl der Virus-Toten steigt, lassen chinesische Parteikader ihrem Frust über die politischen Verhältnisse freien Lauf. Ihre Offenheit erstaunt.
In China hat die Suche nach den Schuldigen der Coronavirus-Epidemie begonnen. Während sich die verschiedenen Abteilungen gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben, sehen sich einige Kader ermutigt, ihrem Frust öffentlich Luft zu machen. „Dies ist keine Naturkatastrophe, sondern ein von Menschen gemachtes Desaster“, schreibt ein Abteilungsleiter der Gesundheitsbehörde der von der Epidemie besonders betroffenen Provinz Hubei (oder jemand, der Zugang zu dessen offiziellem Konto in dem sozialen Netzwerk „Weibo“ hat). Er schreibt Sätze von erstaunlicher Offenheit, wie man sie sonst selten von chinesischen Funktionären hört: „Es reicht womöglich nicht aus, die Fußsoldaten zu bestrafen. Die Disziplinarkommission muss tiefer graben, um die Verfehlungen anderer Leute zu erfassen, denn sie sind die eigentlichen Mörder.“
Namen nennt er nicht, stattdessen verweist er auf strukturelle Mängel: Die eigentlichen Mörder seien die Indifferenz und die Inkompetenz. „Jeden Tag werden kalt die Zahlen berichtet. Wo ist das Mitgefühl?“ Er spricht von der Feigheit der lokalen Kader, eigene Entscheidungen zu treffen. „Sie reichen die Probleme einfach an ihre Vorgesetzten weiter.“ An vielen Stellen würden inkompetente Leute sitzen, die durch ein Personalauswahlverfahren gelaufen seien, das seinen Namen nicht verdiene.
Mit letzter Kraft in die Schlange gestellt
Der Autor, mutmaßlich der Abteilungsleiter, schreibt, er habe die vergangenen elf Tage in der Kommandozentrale in Wuhan verbracht, in der der Kampf gegen das Coronavirus koordiniert wird. Er übt offen Kritik an jenen Funktionären, die in den vergangenen Tagen in Fernsehinterviews eigene Fehler eingestanden haben und es dabei seiner Ansicht nach an Aufrichtigkeit fehlen ließen. „Seid ihr mal ins Krankenhaus gegangen, um zu sehen, wie viele Menschen sich mit letzter Kraft in die Schlange gestellt haben und sogar auf der Stelle gestorben sind?“
Er wisse, schreibt der Autor noch, dass seine Worte ihn leicht vor Gericht bringen könnten. „Das ist mir egal, ich habe schon zu lange geschwiegen.“ Wie so oft in China wurde sein Betrag aus dem Internet gelöscht. Vorher hatten aber schon genügend Leute Screenshots davon gemacht, die noch zugänglich sind. Es ist nicht auszuschließen, dass der Autor oder die Autorin politische Rückendeckung hat. Womöglich ist der Text Teil von Lagerkämpfen, die hinter den Kulissen längst stattfinden.
Es ist nicht der einzige Beitrag, der in diesen Tagen einen seltenen Blick hinter den Vorhang des Parteiapparats zulässt. Ein anderer Kader mit dem Nutzernamen Tan Jiandong schreibt sich auf der Frage-und-Antwort-Internetseite „Zhihu“ den Frust von der Seele. Dort wird die Frage diskutiert, wie es passieren konnte, dass ein 17 Jahre alter Junge mit Kinderlähmung in einem Dorf in Hubei allein zu Hause sterben musste, weil sein Vater und Bruder wegen Infektionsverdachts in Quarantäne festgehalten wurden. Medienberichten zufolge war er sechs Tage allein und wurde in dieser Zeit nur zweimal von Dorfkadern mit Essen versorgt. „Ich weine, während ich dies schreibe“, schreibt Tan Jiandong, der sich als „Person innerhalb des Systems“ bezeichnet. Er selbst hat mit dem Fall des Jungen wohl nichts zu tun.
Früher, gesteht er, sei er gleichgültig gegenüber menschlichem Leid gewesen. „Aber heute habe ich Anweisungen erhalten, morgen (als Maßnahme gegen die Ausbreitung des Coronavirus) ein Viertel vollständig abzuriegeln und alle Außenstehenden hinauszuwerfen.“ Mit Außenstehenden sind hier vermutlich sogenannte Wanderarbeiter gemeint, die an einem anderen Ort registriert sind. „Angesichts der Absperrungen überall haben diese Leute keinen Ort, an den sie gehen können.“ Er habe versucht, seine Vorgesetzten von dem Plan abzubringen, darauf hingewiesen, dass die Ausgewiesenen obdachlos und krank werden könnten. „Aber es hilft nichts. Keiner dieser Leute, mit denen ich spreche, ist ein Entscheidungsträger. Wem soll man die Schuld geben?“ Es gebe genügend ähnliche Beispiele für Leute, die auf der Autobahn fest säßen, weil sie wegen der strikten Seuchenbekämpfung in keine Stadt in Hubei mehr hineingelassen würden.
Was der Autor hier beschreibt, ist die Folge des berüchtigten chinesischen Top-down-Systems, in dem Anweisungen von oben ohne Rücksicht auf die lokale Realität und die betroffenen Menschen durchgesetzt werden. „Ich bin ratlos“, schreibt er noch. Und sarkastisch fügt er hinzu, morgen müsse er gemeinsam mit der Propagandaabteilung „vorbildliche Beamte“ der Abteilung für Krankheitsbekämpfung interviewen.