Psychiater Manfred Lütz : „Der massenhafte Tod wird auch für Atheisten ein Problem“
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Bild: Matthias Kreienbrink
Zeigt der Mensch in der Krise sein wahres Gesicht? Wird er gläubiger? Der Psychiater und Theologe Manfred Lütz über moralisch richtigen Egoismus, Resilienz und was wir in Quarantäne von Benediktinermönchen lernen können.
Herr Lütz, in was für einer Gesellschaft leben wir in einem Jahr?
Ich bin kein Prophet. Wer das mit Sicherheit sagen könnte, hätte einen Nobelpreis verdient. Selbst die einschlägigen Wissenschaftler tappen ja zum Teil im Dunkeln. Es gibt keine kausale Therapie, es gibt keinen Impfstoff und niemand weiß, wann es so weit sein wird. Das Ausmaß dieser Epidemie überschreitet alles, was die Menschheit bisher erlebt hat. Selbst bei der Pest im Mittelalter waren nur bestimmte Gegenden betroffen, jetzt ist es gleichzeitig die ganze Menschheit. In einem Jahr wird unsere Welt gewiss eine andere sein. Manches, was bisher selbstverständlich war, wird es nicht mehr sein. Ich vermute, das Leben wird wohl generell etwas weniger oberflächlich sein ...
Wir konzentrieren uns mehr auf das Wesentliche?
Ich glaube, die Debatten werden nach einer so existenziellen Krise substantieller. Aber man kann auch dann nicht von morgens bis abends daran denken, dass das Leben endlich ist. Dazu brauchen sogar fromme Menschen bisher schon etwa die Fastenzeit, in der man immer wieder zur Besinnung kommt. Es wird also natürlich auch weiter Spaß und Unterhaltung geben. Aber der grenzenlose Zynismus dieses DieterBohlenHeidiKlumOliverPocher-Kartells, der mit völlig überdrehten Schwachsinnseinfällen auf Kosten schwächerer Menschen hemmungslos Kohle macht, wird es wohl dann schwerer haben.
Meinen Sie wirklich, dass die Katharsis einer ganzen Gesellschaft so grundlegend ist?
Warten wir es ab. Dass Menschen nach solchen Katastrophen zur Besinnung kommen können, das sieht man an so herrlichen Kulturleistungen wie der Kirche Santa Maria della Salute am Ende des Canal Grande in Venedig, die zum Dank für das Ende der Pest gestiftet worden war. Aber nach dem schrecklichen Ersten Weltkrieg gab es auch zunächst ein Abgleiten in eine gewisse Vergnügungssucht. Übrigens wird es für die Politiker erheblich schwieriger sein, die Schulen und andere Institutionen wieder zu öffnen.
Einerseits müssen wir Abstand zu Freunden und Kollegen halten, mit all jenen, mit denen wir in einem Haushalt leben, sind wir plötzlich so eng wie nie.
Die körperliche Distanz, die wir gerade halten müssen, macht uns bewusst, dass wir soziale Wesen sind. Als der Stauferkaiser Friedrich II. Kinder von Geburt an sozial isolierte, um die „Ursprache“ herauszubekommen, starben bekanntlich alle Kinder. Denn Menschen sind auf sozialen Kontakt angewiesen. Deswegen ist es wichtig, jetzt zumindest die Kontakte über Telefon und soziale Netzwerke zu verstärken, damit alleinlebende Menschen nicht vereinsamen. Andererseits ist es auch gar nicht so einfach, plötzlich auf engem Raum über längere Zeit mit Familienangehörigen zusammen zu leben. Manche werden es genießen, endlich mal wieder tiefere Gespräche miteinander führen zu können, andere werden sich vielleicht mit der Zeit auf die Nerven gehen. Es gibt übrigens eine Institution, die seit 1500 Jahren höchst erfolgreich in Quarantäne lebt ...
Nämlich?
Der Benediktinerorden. Ein Benediktinermönch tritt in ein Kloster ein und bleibt sein ganzes Leben lang dort. Am Tag seines Eintritts sieht er schon den Platz, wo er eines Tages beerdigt wird. Die Benediktiner-Regel ist ein psychologisches Meisterwerk, denn es ist eben nicht einfach, jahrzehntelang mit denselben Menschen auf vergleichsweise engem Raum zusammenzuleben. Und diese Regel funktioniert bereits 1500 Jahre lang. Soeben hat der bekannte Benediktinermönch Anselm Grün dazu ein Buch mit dem Titel „Quarantäne – Eine Gebrauchsanweisung“ geschrieben. Davon können auch Atheisten lernen: Man kann zum Beispiel nicht von morgens bis abends miteinander reden, das hält niemand aus. Deswegen gibt es bei den Benediktinern das Schweigegebot über Tag und auch in der Familie ist es vielleicht gut, dass man sich nicht den ganzen Tag lang immer wieder anspricht, sondern sich auf eine bestimmte Zeit einigt, in der alle miteinander reden können. Außerdem ist es wichtig, dem Tag eine Struktur mit gewissen Ritualen zu geben. Es wird auf Dauer schwierig sein, wenn alle Familienangehörigen nur noch im Schlafanzug durch die Gegend laufen und jeder seinen eigenen Rhythmus hat. Aber es muss für jeden auch seine eigene Nische geben, in der ihn niemand stört.
Führt die Krise dazu, dass sich mehr Menschen auf ihren Glauben besinnen?
Im Erzbistum Köln hat Kardinal Woelki für jeden Abend um 19.30 die Glocken aller Kirchen läuten lassen, aber auch angeregt, dass Ministranten und Firmlinge dafür sorgen, dass die „Tafeln“ nicht schließen müssen und dass überhaupt die Christen sich darauf besinnen, dass die christliche Nächstenliebe nicht aufhören darf, auch wenn es keine Gottesdienste mehr gibt. In der Corona-Pandemie kommt man mit einem Schön-Wetter-Gott nicht weiter. Als Christ glaube ich aber an einen mitleidenden Gott, der mir gerade im Leid nahe ist und ich glaube, dass es über den Tod hinaus ein ewiges Leben gibt und einen Sinn des Ganzen.
In Italien und Spanien, wo Tausende sterben, stellt sich doch die alte Frage: Was kann das für ein Gott sein, der das zulässt?
Papst Benedikt hat mal gesagt, das wäre die erste Frage, die er Gott dermaleinst stellen wolle. Dass das Leben todernst ist, das konnte man jahrzehntelang sehr gut verdrängen, denn das Drama des Todes jedes einzelnen Menschen fand im Schatten unserer Gesellschaft in den diskreten Sterbezimmern der Krankenhäuser und Pflegeheime statt. Jetzt drängt sich der Tod massenhaft in alle Nachrichten. Das ist aus meiner Sicht aber auch für Atheisten ein Problem...
Wie meinen Sie das?
Wenn man glaubt, dass alles im Letzten sinnlos ist, dann ist die Lage völlig trostlos, denn was interessiert das Weltall schon, wenn irgendwo auf einem peripheren Planeten eine ganze Menschheit an einem Virus verreckt. Als Christ erlebe ich die jetzige Situation als Herausforderung an meine Freiheit. Wenn das alles einen Sinn hat, den ich in der Liebe zu Menschen, in ergreifender Musik und begeisternder Kunst ahnen kann, dann werde ich gerade jetzt versuchen, einem sinnlosen Virus menschlichen Sinn entgegenzusetzen.
Zeigen die Menschen in der Krise ihr wahres Gesicht?
Ich habe ein Buch mit dem Auschwitzüberlebenden Jehuda Bacon gemacht, dem eindrucksvollsten Menschen, den ich je erlebt habe und der sagte mir, in Auschwitz habe er erlebt, wie hochgebildete Menschen sich wie moralische Schweine verhalten hätten und ganz einfache Menschen wie Heilige. In einer solchen Krise kann man erleben, auf wen man sich wirklich verlassen kann und auf wen nicht, wer menschlich Substanz hat und wer nur oberflächlich überall mitgeschwommen ist.
Der Kauf von mehreren Packungen Klopapier oder Atemmasken wird jetzt zum Symbol einer Ellenbogen-Gesellschaft, in der jeder an sich denkt. Ich ertappe mich dabei, dass ich erstmal überlege, ob es meinen Lieben gut geht. Verwerflich?
Nein, sondern durchaus moralisch. Es ist moralisch geboten, sich zunächst um die Menschen zu sorgen, die einem nahestehen. Davon lebt die ganze Gesellschaft. Das berechtigt aber nicht zu Hamsterkäufen.
Sie meinen: Wenn jeder an sich denkt, dann ist an alle gedacht.
Nein, überhaupt nicht. Das Christentum kennt die Nächstenliebe und die Menschen, die uns am Nächsten sind, sind unsere Familienangehörigen. Man muss sich nicht schämen, wenn man sich für die einsetzt, man muss sich vielmehr schämen, wenn man sich nicht für die einsetzt. Sonst kann übrigens auch kein Staat funktionieren. Egoistisch wird es erst dann, wenn man die schlimme Not der anderen überhaupt nicht mehr wahrnimmt oder noch verstärkt, indem man Übermäßiges für die eigene Familie tut. Ich plädiere aber auch dafür, dass man nicht gleich Fehlverhalten zu harsch moralisch attackiert.
Heißt?
Sie und ich haben vielleicht nicht so viel Angst, dass wir nicht genügend Klopapier haben, aber es mag Menschen geben, die tatsächlich in Panik geraten. Mit denen würde ich erstmal verständnisvoll reden, ihnen erklären, warum es keinen Grund zur Panik gibt und sie nicht gleich beschimpfen. Wir sollten ohnehin mit unseren Aggressionen in der nächsten Zeit behutsam umgehen.
Also Nachsicht für Hamsterkäufer?
Nein, aber nicht gleich reflexartig die große moralische Welle machen.
Sie haben lange eine Psychiatrie geleitet, im November vergangenen Jahres sind Sie in den Ruhestand gegangen. Was macht eine Krise mit Menschen, die eine psychische Erkrankung haben?
In Zeiten schlimmster Katastrophen haben die psychischen Krankheiten merkwürdigerweise nicht zugenommen. Menschen, die unter irrationalen Ängsten leiden, geht es sogar manchmal besser, wenn reale Belastungen auftreten. Aber wer eine gewisse Verletzlichkeit hat, der hat es in diesen Tagen nicht leicht.
Was passiert mit Menschen, die keine diagnostizierte psychische Krankheit haben?
Menschen haben erstaunliche Fähigkeiten, mit schwierigsten Situationen fertig zu werden. Der Zweite Weltkrieg dauerte sechs Jahre lang und kostete über 50 Millionen Opfer. Täglich drohten Bombenangriffe, täglich gab es Todesnachrichten, man saß immer wieder in Luftschutzbunkern. Manche haben davon schwere psychische Störungen bekommen, aber eben bei weitem nicht alle. Wären die Deutschen nach dem Krieg ein Volk von Gestörten gewesen, hätte es kein Wirtschaftswunder gegeben.
Wie ich auf eine Krise reagiere, lässt sich vorher schwer voraussagen, oder?
Das stimmt, aber wer schon einmal schwere Lebenskrisen bewältigt hat, der kommt damit wahrscheinlich besser klar, als jemand, bei dem bisher immer alles funktioniert hat und wo das Leben einfach so vor sich hin geplätschert ist.
Stichwort Resilienz, also die psychische Widerstandskraft in Krisen. Kann man das lernen?
Es gibt keine Tabletten, die die Resilienz stärken. Und man darf es überhaupt mit der Fixierung auf Resilienz nicht übertreiben. Es gibt Menschen, die etwas schneller aus dem Gleichgewicht geraten, aber dafür oft sensibler, empathischer, kreativer sind. Andere sind zwar widerständiger, dafür aber vielleicht auch etwas gröber gestrickt. In der jetzigen Situation sollte man nicht so sehr auf die individuelle Resilienz starren, sondern sich erinnern, wie man früher mit Krisen erfolgreich umgegangen ist. Das hilft auch jetzt eher als die so genannten guten Ratschläge von Leuten, die ganz andere Fähigkeiten haben als man selber.