Hilfsangebote für Familien : Mit den Nudeln kommen die Bildungschancen
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„Wie lange bleibst du?“ Arche-Mitarbeiter Florian Egert in Hellersdorf Bild: Sascha Montag/Zeitenspiegel
Isoliert zu Hause, gerade für sozial prekäre Familien ist das eine Belastung. Die Helfer der „Arche“ versuchen gegenzusteuern – nicht nur mit Lebensmitteln.
Eine Kinderhand presst sich an die Glasscheibe der Haustür. Sie gehört der dreijährigen Sham. Das Mädchen steht barfuß auf den Fliesen im Hausflur eines Plattenbaus. Sie lacht, guckt ihren Vater an, der hinter ihr steht. Auf der anderen Seite der Glastür drückt ein Mann seinen Handrücken ebenfalls gegen das Glas. „Sham!“, ruft er. „Geht hoch, wir kommen!“ Er muss Abstand halten, eineinhalb Meter, die Ansteckungsgefahr minimieren. Erst als Vater und Tochter die Stufen hochsteigen, drückt er mit dem Ellenbogen die Klinke runter und zieht die Tür ein Stück weit auf. In seinem Arm trägt er eine große Tüte mit Lebensmitteln. Der Mann ist Pastor Bernd Siggelkow, 56, Gründer des christlichen Kinder- und Jugendhilfswerks „Die Arche“.
„Über Nacht ist das Hilfesystem in Deutschland zusammengebrochen, alle haben zugemacht, und keiner weiß mehr, an wen er sich wenden kann“, sagt Siggelkow, der die Hilfsorganisation vor 25 Jahren gegründet hat. Vor dem Beginn der Corona-Krise unterstützte und versorgte die „Arche“ deutschlandweit bis zu 4500 Kinder täglich. Doch seit Mitte März sind alle 27 Standorte auf unbestimmte Zeit geschlossen. Im Berliner Stadtteil Hellersdorf arbeitet eine Notbesetzung mit fünfzehn statt der üblichen vierzig Mitarbeiter. Im Keller des alten Schulgebäudes stapeln sich Lebensmittel, Hygieneartikel und Spielzeug bis unter die Decke. Die Mitarbeiter der „Arche“ fahren zu den Familien, versorgen sie mit dem Nötigsten. Wenn die Kinder nicht in die „Arche“ kommen können, kommt die „Arche“ zu den Kindern.
„Letzte Woche war ich bei einer achtköpfigen Familie, die auf 70 Quadratmetern wohnt. Denen fällt die Decke auf den Kopf“, sagt Siggelkow, dunkelblauer Kapuzenpulli, Jeans, schwarze Brille. Die „Arche“ hat Gruppenchats eingerichtet, streamt jeden Tag eine Stunde live, bietet Hausaufgabenhilfe per Videotelefonie an. Kinder, die kein Smartphone haben, bekommen eins. Hauptsache, der Kontakt reißt nicht ab. Ein Kraftakt.
24 Stunden am Tag erreichbar
Die Ausgangsbeschränkungen treffen finanzschwache Familien besonders schwer. Die kostenfreien Mahlzeiten in Schulen, Kindergärten und Jugendzentren fallen weg. Nun müssen viele Eltern ihre Kinder ganztags versorgen und gleichzeitig ihr Sozialleben auf engstem Raum organisieren. Die Familien geraten unter Druck. Da sind Konflikte programmiert – und die können schnell in Gewalt enden. „Unsere große Sorge ist, dass sich mit der Dauer der Isolation die häusliche Gewalt in den Familien erhöht“, sagt Melike Yar von „Save the Children“, „und die Kinder damit sowohl zu Beobachtern als auch zu Opfern häuslicher Gewalt werden.“ Die Kinderrechtsorganisation appelliert an den Staat, die sozialen Hilfen und Beratungssysteme aufrechtzuerhalten: „Es darf nicht sein, dass mit der Verringerung der Zahl der Ansteckungen die Zahl der Kinderschutzfälle steigt.“
Beim Berliner Kindernotdienst sind die Zahlen der Inobhutnahmen bislang nicht angestiegen. „Aber da rollt etwas auf uns zu“, sagt Uwe Bock-Leskien, Leiter des Kindernotdienstes. Die momentane Situation vergleicht er mit einer Blackbox: „Die Mitarbeiter aus Kitas, Schulen, Horten und auch viele ambulante Helfer haben keinen direkten Kontakt mehr zu den Familien.“ Gerade im Bereich der kleinen Kinder sei das hochproblematisch. „Wir können nur an Nachbarn oder Bekannte appellieren, dass sie mögliche Bedenken schnell bei der Hotline Kinderschutz, dem Kindernotdienst oder den zuständigen Krisendiensten der Jugendämter melden.“