Corona in Großbritannien : Kehrtwende auf dem Sonderweg
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Premierminister Boris Johnson hielt zunächst nichts von drastischen Maßnahmen im Umgang mit dem Coronavirus. Bild: AFP
Erst widersetzte sich Boris Johnson dem Trend zu drastischen Maßnahmen gegen das Coronavirus. Er berief sich dabei auf Verhaltensforscher – und wurde heftig kritisiert. Nun will auch er Großveranstaltungen verbieten.
Noch in den vergangenen Tagen pilgerten im Königreich Zehntausende Fans in Fußballstadien. Die Regierung machte keine Vorgaben. Wenn Veranstaltungen abgesagt wurden, geschah das auf Betreiben der Organisatoren. Auch Universitäten, Schulen und Kindergärten blieben geöffnet, und jeder durfte ins Land einreisen.
Während Irland und die meisten Länder auf dem Kontinent versuchten, die Ausbreitung des Coronavirus mit der Schließung von Bildungseinrichtungen und dem Verbot von Großveranstaltungen einzudämmen, widersetzte sich Premierminister Boris Johnson dem Trend zu drastischen Maßnahmen zunächst – unter Berufung auf wissenschaftliche Empfehlungen. Doch in der Nacht zum Samstag drehte er überraschend bei; die Zahl derer, die seinen Sonderweg kritisierten, war offenbar zu groß geworden.
„Die Regierung spielt Roulette“
„Boris Johnson und Gesundheitsminister Matt Hancock behaupten, sie folgten der Wissenschaft. Aber das ist nicht wahr. Die Beweislage ist klar“, äußerte etwa Richard Horton, Chefredakteur der Medizinzeitschrift „The Lancet“. Eine Kritik, die viele Virologen teilten. Nötig seien eine rasche Umsetzung sozialer Distanzierung und Schließungsregeln, forderte Horton. „Die Regierung spielt Roulette mit der Öffentlichkeit.“
Mehrere Wissenschaftler forderten die Regierung in einem in der Zeitung „Times“ veröffentlichten Brief auf, „dringend die wissenschaftlichen Beweise, Daten und Modelle“ zu veröffentlichen, auf denen ihr Handeln beruhe. Dies sei unerlässlich, „um die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der wissenschaftlichen und medizinischen Gemeinde und auch das Verständnis in der Bevölkerung zu wahren“, schrieben sie.
Sie verwiesen darin auch auf Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, wonach Großbritannien bei der medizinischen Grundausstattung mit nur 2,5 Krankenhausbetten pro tausend Einwohnern hinter den Vereinigten Staaten (2,8 Betten), Italien (3,2 Betten) und Frankreich (sechs Betten) liege.
Auch Politiker attackierten die Regierung wegen ihres Krisenmanagements. Der von Johnson nach seiner Kandidatur für den Parteivorsitz ins Abseits geschobene langjährige Gesundheitsminister Jeremy Hunt nannte es „überraschend und besorgniserregend“, dass die Regierung Großveranstaltungen nicht untersage, wo Großbritannien doch nur vier Wochen von einer Notlage wie der in Italien entfernt sei. Der Rechtspopulist Nigel Farage hielt Johnson einen „Mangel an Führungsstärke“ vor. Eher links eingestellte Regierungskritiker unterstellten dem Premierminister, er stelle mit seiner Herangehensweise das Wohlergehen der Wirtschaft über die Gesundheit der Bevölkerung.
Nun greift Johnson durch, will das geforderte Verbot von Großveranstaltungen rasch umsetzen. In der kommenden Woche soll es im Eilverfahren vom Parlament verabschiedet werden und bereits am darauffolgenden Wochenende in Kraft treten. Laut britischer Medien sollen alle Veranstaltungen mit über 500 Teilnehmern untersagt werden. Davon wären auch das Tennisturnier in Wimbledon oder das Pferderennen in Ascot betroffen. Die für Anfang Mai geplanten Kommunalwahlen, und mit ihnen auch die Bürgermeisterwahl in London, wurden bereits um ein Jahr verschoben.
Am Freitag noch hatte Johnson seinen Regierungssprecher die wachsende Kritik mit nüchternen Worten zurückweisen lassen: „Wir folgen den Empfehlungen unseres wissenschaftlichen Chefberaters und des Chefmediziners. Unser Ziel ist es, den Gipfel der Epidemie hinauszuzögern, so dass der Nationale Gesundheitsdienst mit sich verbesserndem Wetter in einer stärkeren Verfassung ist.“