Burnout am OP-Tisch : „Als Chirurg muss man eben saufen“
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Auf Messers Schneide: Viele Ärzte halten dem Druck im Fließband-Betrieb der Medizin nicht stand Bild: dpa
Überarbeitet, gestresst und ausgebrannt: Immer mehr Ärzte werden depressiv oder süchtig. Therapien für diese Art von Patienten sind in Deutschland allerdings noch die absolute Ausnahme.
Natürlich haben es alle gewusst, die Zeichen richtig gedeutet: Die Nervosität, den Geruch, die Schweißausbrüche, schon vor der OP. „Aber das galt unter den Kollegen als normal. Man ist Chirurg, und als Chirurg muss man eben saufen, sonst schafft man seine Arbeit nicht.“ Und so operierte Unfallchirurg Jürgen Rolfes jahrelang unter Alkoholeinfluss, geduldet von seinen Chefärzten, „die selbst gefährliche Trinker waren“. Mit vierzig trank er täglich, „mit fünfzig bin ich total abgestürzt“. Jeden Abend leerte er mindestens zwei Flaschen Rotwein. Wenn das nicht reichte, kam der Schnaps dran. Vor elf Uhr am nächsten Morgen war er nie nüchtern - der Dienst begann um halb acht. Als Krankheit erkannte Rolfes, der erfahrene Arzt, der sichere Diagnostiker, sein eigenes Verhalten nicht.
Jahre später sitzt Jürgen Rolfes, der allerdings anders heißt, in der privaten Oberbergklinik Hornberg, die sich auf die Behandlung suchtkranker Ärzte spezialisiert hat, und spricht offen über Jahre der Selbstverleugnung, der Selbstzerstörung, der emotionalen Leere. Es ist ein idyllischer Platz für eine Klinik, auf einer kleinen Anhöhe mit Blick auf die sanften Hügel des Schwarzwaldes. Ein verträumter Ort, an dem kitschige Fernsehserien gedreht werden könnten über Ärzte - attraktive, erfolgreiche Halbgötter in Weiß. Doch wer hierher kommt, ist oft genau an diesem Bild zerbrochen, den eigenen und fremden Ansprüchen nicht gerecht geworden.
Die Familie, der Erfolg - alles nur Fassade
Auch Rolfes Leben passte lange gut ins Klischee. Doch das große Haus, die Familie, der Erfolg - vieles war nur Fassade. „Ich war nur Chirurg, habe operiert, operiert, operiert. Ich habe niemals eine ehrliche Beziehung zu jemandem aufgebaut, habe meine Gefühle nur ersäuft.“ Es gab viele Gründe dafür: Probleme in der Ehe, Umstrukturierungen im Krankenhaus, „die Medizin zur Fließbandarbeit machten“, berufliche Veränderungen, die Rolfes vom leitenden Oberarzt zu einem Oberarzt unter vielen degradierten. Doch den Alkohol erkannte er lange nicht als sein Hauptproblem. Ein erfolgreicher Arzt wie er würde doch damit alleine fertig werden. „Reiß dich zusammen“, sagte er immer wieder zu sich selbst, „sauf weniger.“ Und machte weiter wie bisher.
Erst eine neue Chefin zwang ihn, sich behandeln zu lassen. Nach gescheiterter ambulanter Therapie ließ er sich in Hornberg einweisen. Eine Privatklinik, die einzige mit einem Behandlungsschwerpunkt für suchtkranke Ärzte. Bis zu 20 Prozent der Patienten sind Ärzte, an die hundert im Jahr, der Rest kommt aus ähnlichen Milieus: Manager, Banker, Beamte. Der Klinikgründer Matthias Gottschaldt war selbst einmal alkoholsüchtig, nach einer steilen Karriere mit Chefarzt- und Professorentitel schon mit Mitte dreißig. Nach seiner Gesundung wusste er, was in Deutschland fehlte: Hilfe für Ärzte. Er gründete deshalb vor zwanzig Jahren die Oberbergklinik, die inzwischen zwei Filialen in Deutschland hat.
Plötzlich selbst Patient
Es ist ein schwieriger Weg hierher, den Ärzte oft nicht freiwillig machen - zu viele Gründe gibt es, lieber zu schweigen: Angst vor dem Verlust des Ansehens, der Approbation, der Einnahmen, der Existenz. Bis vor kurzem haben sie noch diagnostiziert, therapiert und kontrolliert. Jetzt sind sie plötzlich selbst Patienten, haben die Kontrolle verloren, müssen zuhören, vertrauen, hoffen, warten. „Ärzte haben mehr Mühe, sich Krankheiten einzugestehen - gerade gesellschaftlich stigmatisierte wie die Sucht“, weiß Götz Mundle, Chefarzt der Hornberger Klinik. „Die Scham ist noch größer. Das liegt auch an unserem Arztbild vom unverwundbaren Helfer.“