Aids : Die neue Sorglosigkeit
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Man sieht dem Siebenundvierzigjährigen seine Krankheit nicht an: Lothar sieht sportlich aus, unter dem Hemd zeichnen sich Muskeln ab. Die Baseballkappe macht ihn jünger. Lothar hat Erfolg auch bei jüngeren Männern. Sobald er aber auf „safer sex“ beharre, gelte er als „uncool“. Wenn ein Kurzzeitpartner aufs Kondom verzichten will, konfrontiert er ihn mit seiner Krankheit. Die Unverbesserlichen, die er zur Rede stellt, werden mehr. Zwischen 2001 und 2007 ist die Zahl der jährlichen HIV-Erstdiagnosen in Deutschland von 1443 auf 2752 gestiegen, um mehr als 80 Prozent. Hauptanteil daran haben Männer, die Sex mit Männern haben. Dass sich zugleich andere sexuell übertragbare Krankheiten wie die Syphilis unter Schwulen stark ausbreiten, spricht ebenfalls für die „Kondommüdigkeit“.
Seine Mutter wusch seine Wäsche separat
Bei der Aidshilfe in Frankfurt kümmert sich Lothar ehrenamtlich um die Gruppe „20+pos“, einen Zusammenschluss junger HIV-Positiver, den es in mehreren Städten gibt. Für die Aidshilfe geht er auch in Schulen, um dort über seine Krankheit zu sprechen. Gleich am Anfang stellt er den Schülern, die zwischen 16 und 25 Jahre alt sind, die Frage, ob sie schon einmal ungeschützten Sex hatten. „Zunächst sagen alle nein. Doch am Ende wird einigen klar, dass sie zumindest unvorsichtig gewesen sind.“ Offenbar glauben viele junge Leute an die Mär, man könne sehen, wenn jemand HIV-positiv ist.
Nach der Diagnose im Jahr 1984 hatte er zunächst überhaupt keinen Sex mehr. Aus Angst und Unwissenheit. Zu wenig war damals über die Immunschwächekrankheit bekannt. Seine Mutter, die anfangs als Einzige von seiner Ansteckung wusste, wusch seine Wäsche immer separat. Sie achtete auch darauf, dass er nicht aus demselben Glas wie seine Geschwister trank. Und wenn er sich beim Essen ein Stück Brot oder Braten mit seinem Messer abgeschnitten hatte, wanderte die nächste Scheibe in den Müll. Schließlich hielt er das Getuschel im Dorf nicht mehr aus. 1991 nahm er nach einer Operation einige Kilogramm ab. Es hieß, der Lothar sehe aber schlecht aus, der sei doch bestimmt krank und habe womöglich sogar Aids. Da sorgte er dafür, dass alle im Dorf von seiner Infektion erfuhren. Die ersten Reaktionen bestärkten ihn. Eine der jungen Frauen im Faschingsverein legte ihm ihr Baby in den Arm. „Sie wollte allen zeigen, dass man keine Angst vor mir haben muss.“ Und seine Schwester trank aus einer Flasche mit ihm.
Sie verlieren Partner, Freunde, Arbeit
Merkwürdig erscheint ihm heute die neue Sorglosigkeit unter jungen Schwulen, die aufs Kondom verzichten, mit den Kranken aber nichts zu tun haben wollen. Die älteren Aidskranken blieben meist unter sich. „Sie trauen sich oft nicht mehr in die Szene.“ Selbst im Café der Aidshilfe distanzieren sich manche der jüngeren von den älteren Gästen, denen man ihre Krankheit ansieht. Da heißt es dann, sie verdürben einem durch ihre Anwesenheit den Appetit. Als Lothar seine Medikamente beim Sommerfest der Aidshilfe mit einem Schluck Wasser am Tisch hinunterspülen wollte, hielt ihm jemand vor, er wolle sich ja nur profilieren.
Wenn er sich mit jüngeren HIV-positiven Schwulen bei der Aidshilfe trifft, geht es um drei Themen: Wie, wem und wann sage ich, dass ich HIV-positiv bin? Wann ist der richtige Zeitpunkt für die Kombinationstherapie gekommen? Wie soll es mit mir beruflich weitergehen? „Für viele junge Schwule geht nach der Diagnose ihr ganzes Leben in die Brüche.“ Sie verlieren Partner, Freunde, Arbeit. Lothar kennt gleich mehrere Fälle, in denen ein HIV-Positiver aus dem Job gemobbt wurde oder vom Arbeitgeber gekündigt.
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