Erstarrt in Stereotypen
Text von BARBARA BACHMANN,Fotos von FRANZISKA GILLI
Stumme Showgirls und eine laute feministische Bewegung: Eine Reporterin und eine Fotografin haben sich auf die Suche gemacht nach dem Frauenbild in ihrer Heimat Italien.
Sie könnten kaum widersprüchlicher sein, die beiden Rollen, die Frauen in Italien zur Wahl zu stehen scheinen. Und doch bedingen sie einander. Die eine ist die Hure. Die andere die Heilige. Maria Magdalena und die Jungfrau Maria: zwei zentrale Frauenbilder einer Institution, die das Land seit 2000 Jahren prägt. Der Einfluss der katholischen Kirche gilt als eine der primären Ursachen dafür, dass Italiens Gesellschaft zutiefst patriarchal geprägt ist. Das ist nicht zuletzt auf den Vatikan zurückzuführen, der sich seit jeher stark in gesellschaftliche wie politische Belange einmischt. In wenigen Ländern Europas sind weibliche Stereotype derart festgefahren.
Für uns, Reporterin und Fotografin, war das der Anlass, uns auf die Suche zu begeben. Danach, was es bedeutet, eine Frau zu sein in dem Land, in dem wir, wenngleich in einer deutschsprachigen Minderheit, aufgewachsen sind. Für unser Buch „Hure oder Heilige - Frau sein in Italien“ (Edition Raetia) haben wir feministische Aktivistinnen und Nonnen der unbefleckten Empfängnis begleitet, haben Showgirls aus dem Fernsehen getroffen und junge Frauen, die ihnen nacheifern. Wir zeigen heutige und historische Gegebenheiten, Glück und Trauer, Stärke und Schwäche, Mut und Rückzug.
Im Januar 2020, bei den Vorbereitungen für das wichtigste Musikfestival Italiens, das Festival di Sanremo, begründete der Hauptmoderator und künstlerische Leiter Amadeus die Wahl einer seiner Ko-Moderatorinnen mit den Worten: „Sie ist in der Lage, einen Schritt hinter einem großen Mann zu bleiben.“ Neben den Fußballspielen der Serie A erreicht das Festival die höchsten Einschaltquoten, 11,4 Millionen Zuschauer waren es beim Finale 2020. Das Fernsehen ist die wichtigste Informationsquelle der Italiener - und das Frauenbild der öffentlich-rechtlichen und privaten Kanäle bezeichnend.
Lasziv tanzen junge Frauen durch das Hauptabendprogramm, seit mittlerweile 65 Jahren. Tragen freizügige Kostüme und kräftiges Make-up. Wer keine schönheitsmedizinischen Eingriffe hat vornehmen lassen, ist die Ausnahme. Seit mehr als 30 Jahren strahlt ein Fernsehsender des ehemaligen Ministerpräsidenten und Medienmoguls Silvio Berlusconi die Nachrichten-Satire-Show „Striscia la notizia“ aus, die an sechs Abenden pro Woche im Schnitt je 4,5 Millionen Menschen erreicht. Die dazu gehörenden Veline wurden zum Symbol für weibliche Fernsehfiguren ohne tragende inhaltliche Funktion.
Mit velina war ursprünglich ein dünnes Blatt Papier gemeint, das die Assistentinnen den Moderatoren während der Sendung reichten. Auch im Jahr 2021 sprechen diese Frauen nicht. Selbst dann nicht, wenn sie etwas gefragt werden, was kaum passiert. Stets treten die Veline im Doppelpack auf, eine Blonde und eine Brünette - um jeden Geschmack zu befriedigen. Das Showgirl-Image ist weit entfernt von der Realität von Millionen Italienerinnen. Und doch ist es zu einem gängigen Frauenbild in der Gesellschaft geworden, an dem sich viele junge Italienerinnen bis heute orientieren.
So wie Francesca Fiaschetti aus Rom. Vor Jahren träumte sie von einer Karriere beim Fernsehen. Sie nahm, an Magersucht leidend, am Schönheitswettbewerb Miss Italia teil, einem Sprungbrett ins Fernsehshowgeschäft, und versucht sich heute als Influencerin. „Mein Hauptanliegen war immer ein schöner Körper“, sagt sie. Für eine Fernsehkarriere hält sie sich mit 22 Jahren inzwischen für zu alt. In Italien mag das für eine junge Frau zutreffen, nicht aber für einen gleichaltrigen Mann. Im Unterschied zu den Showgirls, die meist nach ein, zwei Staffeln ausgewechselt werden, gibt es für Männer keine Altersgrenze nach oben.
Nicht nur die Situation im Fernsehen zeigt: Was das Verhältnis zwischen den Geschlechtern betrifft, werden in Italien viele Selbstverständlichkeiten nicht infrage gestellt und viele Dogmen - manche noch aus der Zeit des Faschismus - einfach hingenommen, bewusst oder unbewusst. „In unserem Staat darf die Frau keine Rolle spielen“, sagte Faschistenführer Benito Mussolini einst. Fast 100 Jahre später sind Frauen in Italien überdurchschnittlich gut ausgebildet, aber unterdurchschnittlich gut beschäftigt. Italien ist ein Land, in dem eine Online-Zeitung vor kurzem titelte: „Carola Rackete ohne BH vor der Staatsanwaltschaft: die unerhörte Unverschämtheit, die vielen entgangen ist“. Und in dem der ehemalige Innenminister Matteo Salvini twitterte: „Ich schäme mich übrigens für diesen Sänger, der Frauen mit Huren vergleicht, die vergewaltigt, gekidnappt und wie Objekte behandelt werden. Das machst du bei dir zu Hause, nicht im Öffentlich-Rechtlichen und auch noch im Namen der italienischen Musik.“
Politiker der Neuen Rechten wie Salvini schüren immer offener die Frauenfeindlichkeit. Da verwundert es nicht, dass die Metoo-Debatte nie richtig begonnen hat - Italien schien nicht bereit für diese Auseinandersetzung. Im Gegenteil: Patriarchale Strukturen wurden dadurch noch verhärtet. Asia Argento, die Schauspielerin, die für die Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen Harvey Weinstein im Ausland viel Solidarität erfuhr, wurde zu Hause in Italien dafür verhöhnt und beschimpft.
In einem Frauenkloster in der mittelitalienischen Region Marken bekommen die Bewohnerinnen von alledem nicht viel mit. Seit 300 Jahren verschreiben sie sich dem Ziel, ein lebendiges Abbild der Jungfrau Maria zu sein. Das Streben nach Gleichheit der Geschlechter betrachten die „Suore dell'Immacolata“, die Nonnen der Unbefleckten Empfängnis, kritisch. Niemals dürfe eine Frau ihre Mütterlichkeit und Demut ablegen. Die Mutter ist im Madonnen-verehrenden Italien eine Ikone, ein himmlisches und auf Erden zu erreichendes Ideal. „Ja, die Gattin und Mutter ist die Sonne der Familie. Sie ist die Sonne, die mit ihrer Großzügigkeit und Hingabe, mit ihrer ständigen Bereitschaft, mit ihrer wachsamen und fürsorglichen Feinfühligkeit in jeder Hinsicht dem Gatten und den Kindern das Leben versüßt“, schrieb Papst Pius XII. im Jahr 1943 in einer Rede an junge Brautpaare.
Und doch wird im Land der Kavaliere und Charmeure im Durchschnitt alle drei Tage eine Frau ermordet. Auch wenn der Süden als besonders konservativ gilt, ist geschlechtsspezifische Gewalt in Italien überall ein Problem, in Mailand wie in Palermo. Den bisherigen Gipfel erreichte die Gewalt in der letzten Januarwoche im Jahr 2020: An sieben Tagen wurden sieben Frauen tot aufgefunden. Man vergewaltigte sie, trat sie zu Tode, verprügelte sie. Sie wurden erwürgt, erstochen, erschossen. Gemeinsam war den Taten: Die Frauen kannten ihre Mörder. Rund 85 Prozent der Gewaltverbrechen finden in Italien zu Hause statt, hinter verschlossenen Türen, verübt von Ehemännern, Lebensgefährten, ehemaligen Partnern.
Am Ende dieser Woche bezeichnete Giovanni Salvi, der Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts, die Frauenmorde als „nationalen Notstand“. Ministerpräsident Giuseppe Conte versprach, den „Codice Rosso“ (er regelt Meldungen und Untersuchungen von Verbrechen im Zusammenhang mit häuslicher oder geschlechtsspezifischer Gewalt) wirksamer zu gestalten, und teilte auf Facebook mit: „Gewalt gegen Frauen ist auch ein kulturelles Problem, und deshalb werden wir in den Schulen ansetzen, zwischen Jungen und Mädchen, denn dort muss der Wandel beginnen.“ Dennoch geschah bisher wenig.
Es gibt auch ein anderes Italien. Eines, das diese Verhältnisse seit Jahrzehnten anprangert, sich nicht damit zufrieden gibt, dass viele Errungenschaften aus den siebziger Jahren, als Italiens Frauenbewegung in Europa führend war, seit den achtziger Jahren mit dem Erstarken des Privatfernsehens von Silvio Berlusconi verloren gingen. Für die Gesellschaft wird es meist nur sichtbar an Tagen wie dem 8. März, dem Weltfrauentag, oder dem 25. November, dem Tag gegen Gewalt gegen Frauen. Oder wenn bei einer Demonstration Hunderttausende Menschen auf die Straßen gehen, wie zuletzt im November 2019 in Rom, als „Non una di Meno“ dazu aufrief.
Lange gab es in Italien keine so aktive feministische Bewegung mehr. „Non una di Meno“, im Jahr 2016 gegründet, hat mehr als 80 örtliche Gruppen. Ihr Leitspruch: „Vereint sind wir aufgebrochen, vereint werden wir zurückkehren. Nicht eine, nicht eine, nicht eine weniger.“ Erstmals sind auf nationaler Ebene Aktivistinnen aus allen Altersklassen und sozialen Schichten vereint: Studentinnen, Rentnerinnen, Arbeitslose, Angestellte, Krankenpflegerinnen, Unternehmerinnen, Ökofeministinnen, Transfeministinnen. Jene, die seit fast 50 Jahren für Frauenrechte kämpfen, und solche, die sich immer engagieren wollten, aber nicht wussten, wo und wie. Und auch ganz junge Frauen, manche noch minderjährig.
Natürlich ist das Frauenbild nicht nur in Italien stereotyp geprägt. Auch Deutschland ist von einer tatsächlichen Gleichberechtigung noch immer weit entfernt. Frauen werden auch hier aufgrund ihres Geschlechts bei der Arbeitssuche benachteiligt, es gibt den gender pay gap, sexuelle Belästigung, Frauenmorde. Nur empfinden wir all das in der italienischen Gesellschaft als noch klarer, die Strukturen als starrer.
Den Polen Hure oder Heilige, den jahrtausendealten Stereotypen, möchten wir Bilder aus der Realität entgegenhalten. Eine 18 Jahre alte Miss-Anwärterin und eine 99 Jahre alte Bäuerin. Eine Analphabetin und eine Universitätsdozentin. Eine Schönheitschirurgin und eine Schweinezüchterin. Und auch Männer kommen im Buch zu Wort, unter ihnen ein 38 Jahre alter Pornodarsteller, der sagt: „Klar gibt es auch die 'Heiligen'. Aber im Grunde ist eine Frau wie ein Pferd. Es kommt immer auf denjenigen an, der sie reitet.“ Ein Priester, 72 Jahre alt, der Mutter zu werden für die größte weibliche Fähigkeit hält: „Alles in ihrem Leben dreht sich darum.“ Und ein 18 Jahre alter Gymnasiast, der sagt: „Ich bin Feminist. Es geht für mich darum, den Menschen zu sehen, nicht das Geschlecht.“ Als Kind spielte er eine Zeitlang mit einer Puppenküche, was seinem Vater missfiel. „Er war auch dagegen, als ich mich als Kleinkind an Fasching als Teletubby verkleiden wollte“, erzählt er. „Er sagte, das sei eine Frau.“
Quelle: F.A.Z. Magazin
Veröffentlicht: 19.02.2021 20:25 Uhr
