Geschichte einer Misshandelten : „Dann wirst du irgendwann unsichtbar“
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Zuhause, Heimat, Familie: Mit diesen Begriffen kann Fiona heute nichts mehr anfangen. Noch immer hat sie Angst, entdeckt zu werden. Bild: privat
Jahrzehntelang wehrte sich Fiona nicht, wenn ihre Ziehmutter auf sie losging. Dann verließ sie die einzige Familie, die ihr geblieben war. Ein Jahr später spricht sie über den Schritt ins Leere.
Fiona* sitzt in einem Café. Ihr Blick ist starr und ernst, ihre dunklen Augen immer auf einen Punkt geradeaus fixiert. „Da ist diese Stimme, die letzte Würde in dir, der letzte Schutz, der sagt: So geht es nicht mehr.“ Sie zieht ihren schwarz-weißen Strickmantel am Arm herunter. Über dem Ellenbogen fährt sie eine rund zwei Zentimeter lange Narbe mit dem Zeigefinger nach. Die Spur eines Peitschenhiebs mit einem Radiokabel. Eine von vielen auf dem Körper der 25-Jährigen. Sie ertrug die Hiebe immer still, wehrte sich nie. 18 Jahre lang. Bis zu dem Tag vor einem Jahr.
Dieser Tag beginnt so: Fiona wickelt ein paar Kleidungsstücke in ein Bettlaken, knotet es fest zu. Um halb zwei Uhr nachts, als alle schlafen, wirft sie das Bündel aus dem sechsten Stock, in die Hände einer Freundin. Zitternd kriecht sie wieder in ihr Bett und macht kein Auge zu. Am Morgen steht sie als Erste auf, packt ihren Rucksack und geht zur Universität, alles soll aussehen wie immer. Nur diesmal weint sie den ganzen Weg.
„Ich war bei null“
„Man weiß nicht, ob es besser wird. Aber man weiß, dass es anders werden muss.“ Fiona ging erst dann, als sie merkte, dass sie sich eigentlich längst selbst verlassen hat. Sie war nur noch abwesend, sprach kaum. Sie schrieb eine letzte Studienprüfung und erklärte ihrer besten Freundin, dass sie jetzt den Master schmeißt. Zwei Tage später die Flucht.
Sie taucht unter, fährt ans andere Ende von Deutschland, so weit weg wie möglich von ihrem Zuhause in Hessen. Niemand Bekanntes, keine Freunde sollen sie so sehen. So schwach. In Berlin sitzt sie am Bahnhof und wählt die Nummer der Notfall-Hotline des Frauenhauses.
Fiona hat ihre Familie verlassen. „Zuerst ist diese Ungewissheit und Leere da. Ich dachte: Du hast nichts mehr. Ich war bei null.“ Schon einmal war sie geflohen, und schon einmal hatte sie ihre Familie verloren, ihre leibliche Familie. Sie wollten zusammen einem Bürgerkrieg entkommen, aus welchem Land, will sie nicht sagen, aus Angst, erkannt zu werden. Doch Mutter und Vater waren auf der Flucht verschollen. Die Mutter vermisst, der Vater tot, so steht es heute in offiziellen Papieren. Ihre Großmutter organisierte einen Schlepper, der Fiona mit sechs Jahren nach Deutschland brachte. Sie kam hier bei einer entfernten Verwandten unter, die schon Jahre zuvor geflohen war.
Die Verwandte dominierte die nun fünf Kinder und den Mann, erst vier Jahre lang in einem Zimmer in einem Asylbewerberheim, dann in einer Vierzimmerwohnung. „Sie war der Mann im Haus“, sagt Fiona. Damit meint sie: Sie war temperamentvoll. Und aggressiv. „Ich war noch keine zwei Monate dort, da wurde ich schon mit einem Tablett verprügelt.“ Bis das Tablett auf dem Rücken des sieben Jahre alten Mädchens zerbrach. Weil Fiona ihr nicht richtig zugehört hatte. „Ich habe nur gehofft, dass das nicht wieder passiert.“
Immer neue Anlässe für die Gewalt
Doch es passierte immer wieder. Die leiblichen Kinder blieben auch nicht verschont, doch bei keinem war es so brutal wie bei Fiona. Und sie ertrug die Attacken. Sie versuchte verzweifelt, so zu sein, wie die Ziehmutter sie haben wollte. In der Hoffnung, dass dann die Schläge aufhören würden und sie ihre Zuneigung bekommen würde. Sie entwickelte immer mehr Ehrgeiz in der Schule, bekam bald die ersten Begabtenstipendien. „Ich wollte, dass sie mich sieht und wertschätzt. Aber das hat sie nicht.“
Im Gegenteil: Die Ziehmutter fand immer neue Anlässe für die Gewalt. Ein verschwundener Lippenstift, Geld fehlte, immer stand die Schuldige schnell fest. „Manchmal habe ich Dinge zugegeben, die ich nicht getan habe, damit sie aufhört, mich zu schlagen. Manchmal hat sie mich den ganzen Tag verprügelt.“ Blinde Wut aus der eigenen Überforderung heraus, der Hauch einer Erklärung, die Fiona für sich gefunden hat. Irgendwann wusste Fiona nicht mehr, wer sie eigentlich selbst war. „Dann wirst du irgendwann unsichtbar.“
Einmal war einer Freundin in der Schule eine frische, dicke Wunde am Unterarm aufgefallen. Darauf angesprochen, bekam Fiona einen Weinkrampf, bis auch die Lehrerin verstand, was los war. Nur auf Fionas Flehen hin verständigte sie nicht das Jugendamt. „Ich lebe lieber in so einem Zuhause, als dass meine Geschwister keine Mutter mehr haben“, sagte sie. Und dass auch sie selbst zum zweiten Mal eine Mutter verlieren würde.
Nach außen hin immer die Starke
Den Schritt heraus schaffte sie nur durch Fragen an sich selbst. „Was ist Würde für dich? Wolltest du, dass man das jemandem zumutet, der dir wichtig ist? Nein? Warum bist du dann so viel weniger wert? Was passiert, wenn du mit dir alleine bist und alle Stimmen um dich verstummen?“ Sie gab sich ehrliche Antworten. „Ich habe lange über Würde nachgedacht. Das ist für mich die Haut meiner Seele. Und wenn dir jemand sagt, zieh dir die Haut ab, würdest du es ja auch nicht machen.“
Nach außen hin war sie schon immer die Starke. Die, die von anderen um Rat gefragt wird. Zu Hause war sie das Opfer. Sie hasst das Wort. „Ich dachte lange, dass es eine Schande ist, Schwäche zu zeigen.“ Statt sich selbst zu helfen, half sie anderen. Sie engagierte sich ehrenamtlich für Flüchtlinge.
Im Frauenhaus war sie plötzlich diejenige, um die sich jemand kümmerte. Fiona verstand, dass die eigentliche Schwäche ist, die Wirklichkeit immer wieder aufs Neue zu relativieren. Man half ihr mit den Papieren, mit der Auskunftssperre, damit ihre Familie ihren Aufenthaltsort nicht herausfinden konnte. Fünf Monate lebte sie hier und befasste sich mit dem, was noch mehr schmerzte als die Wunden: die Wahrheit. Sie bekam permanent psychologische Betreuung.
Den höchsten Preis gezahlt
Vor ein paar Wochen ist Fiona in ihre neue Wohngemeinschaft eingezogen. Das helle Zimmer ist nur provisorisch eingerichtet, die Matratze liegt auf dem Parkettboden, daneben Notizbücher, Kleidung, ein Haufen Schuhe. Am Kopfende hängt ein kleines Passfoto eines der Geschwister in der Pflegefamilie.
Der Neuanfang in einem neuen Zuhause? „Irgendwie kann ich mit den Ausdrücken ,Zuhause, Heimat, Familie’ nichts mehr anfangen. Sie sind für mich nichtssagend.“ Lieber ist es Fiona, sich mit nichts mehr zu stark zu verbinden. Dann kann man es auch nicht verlieren. Neue, enge Freundschaften fallen ihr schwer. „Ich entscheide immer, wie viel sie von mir sehen dürfen.“ Sie will jetzt auch wieder anderen helfen, engagiert sich wieder für Flüchtlinge, gibt Kindern Kunsttherapie. Im Wintersemester beginnt sie einen neuen Master, Schwerpunkt: Menschenrechte.
Noch heute hat sie Angst, entdeckt zu werden. Sie spricht nur mit einer ihrer Schwestern, und auch die weiß nicht, wo sie lebt. Fiona malt sich aus, wie ihre Ziehmutter ihr dann eines Tages auflauert und sie überfällt.
Doch das nimmt sie in Kauf, dafür kommen keine neuen Narben mehr, keine Schläge, keine Peitschenhiebe. Dafür hat sie den „höchsten Preis“ gezahlt, wie sie sagt. Den Verlust der letzten Familie, die sie noch hatte.