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Medienhetze : Front gegen das Niesen

Haben Spielecke und Pissoirs in Kleine-Jungs-Höhe: Kinder im Café Niesen

Haben Spielecke und Pissoirs in Kleine-Jungs-Höhe: Kinder im Café Niesen Bild: KAY HERSCHELMANN

Vom Familienparadies zum „Café Kinderfrei“: Das Kiezlokal Café Niesen in Prenzlauer Berg wurde zur Zielscheibe einer Medienkampagne, weil es ein Séparée für Erwachsene schuf. Doch kaum einer der Kritiker ist je dort gewesen.

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          Das seit einigen Tagen berühmteste Café Berlins liegt in einer verkehrsberuhigten Straße, in einer Ecke, in der der Prenzlauer Berg noch nicht schicksaniert ist. Ein Streifen des Mauerparks trennt das Gebiet vom westlichen Brunnenviertel im ärmlichen Wedding, im Norden mündet die Straße in einen Steg über den S-Bahn-Schienen, nachdem sie vorbeigeführt hat an einer Jugendfarm mit Ziegen und Ponys, an einem Spielplatz und einem Kletterfelsen. Der Gleimkiez wirkt wie aus der Zeit gefallen, eine fast paradiesische Enklave im Großstadttrubel; dass wir uns in Prenzlauer Berg befinden, erkennt man einzig daran, dass auch hier viele, sehr viele Passanten einen Kinderwagen vor sich her schieben.

          Jörg Thomann
          Redakteur im Ressort „Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

          Sie finden sich auch im Café Niesen. Vier Wagen sind es an diesem frühen Nachmittag, die so verteilt sind, dass der Weg zu den Toiletten zum Slalom wird. Eine Mutter schaukelt ihren Kleinen auf den Knien; auf dem Tisch neben ihr liegt das sehr zerlesene Exemplar eines Riesenwimmelbuchs von Ali Mitgutsch. Es ist noch ruhig im Niesen, die Ruhe vor dem Sturm, der gegen 16 Uhr einsetzt, wenn die Eltern mit ihren Kita-Kindern eintreffen. Am ruhigsten, jetzt und nach 16 Uhr, ist es in dem Raum, den man durch den hinteren Korridor erreicht oder durch einen Nebeneingang, an dem außen ein kleiner Zettel klebt: „Neu: Für Ältern ohne Kinder“, steht darauf. Dieser Zettel hat das Niesen berühmt gemacht. Nicht der eigenwilligen Orthographie wegen, die sich einer speziellen Ausprägung berlinischen Humors verdankt, sondern aufgrund seiner Botschaft: Dieses Zimmer dürfen keine Kinder betreten.

          Auf ausdrücklichen Wunsch vieler Eltern

          Seit am Mittwoch vor einer Woche die „Abendschau“ des rbb bekanntmachte, dass ein Café in Prenzlauer Berg eine kinderfreie Zone eingerichtet hat, ist es mit dem beschaulichen Leben im Niesen vorbei. Die Regionalzeitungen schickten Reporter, und diesen folgten weitere; zuletzt, sagt Niesen-Mitinhaber Klaus Schulte, das „Augsburger Tagblatt“. Und weil auch die englische Ausgabe von „Spiegel Online“ einen Text ins Netz stellte, informiert nun auch „De Telegraaf“ seine Leser über das seltsame Geschehen in Duitsland, während auf der Homepage von „CityOut Vilnius“ heiß diskutiert wird, ob es in Litauen ähnlich kinderfeindlich zugeht. Am engagiertesten zeigt sich Berlins Boulevard. „Es ist ein Thema, über das ganz Deutschland diskutiert!“, freut sich „Bild“, und das Springer-Schwesternblatt „B.Z.“ titelt: „Café Kinderfrei: Politiker entsetzt“. Die „B.Z.“-Reporter haben es in Windeseile geschafft, eine große Koalition gegen das kleine Café zu schmieden: „Familienfeindlich“, ja, „zum Kotzen“ findet der FDP-Landeschef die Idee und ruft die Anwohner dazu auf, das Lokal zu „boykottieren“; „unmöglich und nicht akzeptabel“, schimpft eine SPD-Abgeordnete, und ein Grünen-Politiker regt an, „ein Verbot dieser Kinderausgrenzung“ zu diskutieren.

          Café Kinderfrei? Der Hauptraum des Niesen an einem typischen Nachmittag
          Café Kinderfrei? Der Hauptraum des Niesen an einem typischen Nachmittag : Bild: KAY HERSCHELMANN

          Am Schauplatz des Skandals steht, ein Handtuch über der Schulter und mit roter Schürze, der Wirt Klaus Schulte und versteht die Welt nicht mehr. „Wir sind so 'ner Situation noch nicht ausgesetzt gewesen“, sagt er. Das Niesen, beteuert er, sei eines der kinderfreundlichsten Cafés überhaupt: „Manchmal stehen hier zehn Kinderwagen, da kommt man gar nicht mehr durch, um das Frühstück zum Tisch zu bringen. Wir haben da eine extrem hohe Toleranz.“ Die an der Schwelle zum Séparée jetzt ein Ende hat. Allerdings, so Schulte, auf ausdrücklichen Wunsch der Gäste und auch vieler Eltern.

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