Vorentscheid zum ESC : Zusammengecastet für Tel Aviv
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Das Duo „S!sters“ gewinnt den deutschen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest. Bild: EPA
Mit „S!sters“ gewinnt ein Duo den deutschen Vorentscheid für den ESC, das weder sich selbst noch seine Musik gut kennt. Ob die Sängerinnen mit ihrem eher gewöhnlichen Song beim Finale in Israel punkten werden, ist fraglich.
Der ARD-Unterhaltungskoordinator versuchte den Mythos aus der Welt zu räumen, aber so richtig gelingen wollte es ihm bei diesem Eurovision Song Contest-Vorentscheid nicht. Die Startposition der Kandidaten sei nicht entscheidend für das Ergebnis, sagte Thomas Schreiber, aber die Skepsis im Zuschauersaal wollte nicht weichen. Zu überraschend war der Sieg des Duos „S!sters“, das als letzte von sieben Kandidaten in Berlin mit ihrem Song „Sister“ auf die Bühne gegangen war.
Die beiden Sängerinnen Carlotta Truman und Laurita, die eigentlich Laura Kästel heißt, waren selbst völlig überwältigt von ihrem Sieg. Truman brachte die ersten Zeilen von „Sister“ während ihrer Abschlussperformance nur unter Tränen hervor. Auf 30 Punkte brachte es das Duo insgesamt. 12 Punkte, also die höchstmögliche Anzahl, erhielten Truman und Kästel vom Publikum sowie von einer zwanzigköpfigen internationalen ESC-Experten-Jury.
Das Eurovisions-Panel, zuständig für das letzte Drittel der Wertung, gab dem Duo jedoch nur sechs Punkte. Das Panel soll den Geschmack der internationalen ESC-Zuschauer repräsentieren. Es wählte die in Los Angeles lebende Aly Ryan mit dem schnellen Pop-Song „Wear Your Love“ zum Favoriten. Ryan kam insgesamt jedoch nur auf 25 Punkte und hatte damit in der Gesamtwertung einen Punkt weniger als die zweitplatzierte Makeda, die mit der Ballade „The Day I Loved You Most“ angetreten war. Insgesamt 375.000 Stimmen gab das Publikum in diesem Jahr ab, wie die ARD mitteilte.
„S!sters“ waren buchstäblich als Außenseiterinnen in das Rennen um den Startplatz beim diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC) in Tel Aviv gegangen. Der NDR hatte das Duo erst vor etwa einem Monat nominiert, nachdem eine Gruppe von Songwritern der Rundfunkanstalt das Lied „Sister“ angeboten hatte. Vier der sechs Songs der anderen Kandidaten waren bereits im November im gemeinsamen Songwriting-Camp entstanden.
Die 26 Jahre alte Kästel und die neunzehnjährige Truman lernten ihre Mitbewerber dagegen erst in dieser Woche, kurz vor der Show „Unser Lied für Israel“ kennen. Dass das Duo und sein Siegerlied fast identisch heißen, ist kein Zufall: „S!sters“ wurde extra für den ESC-Vorentscheid gecastet, Truman und Kästel haben sich vor einem Monat das erste Mal getroffen.
Lena als Vorbild
Ihr Lied ist ein sehr emotionaler Popsong mit vielen dramatischen Höhepunkten und klassischen ESC-Effekten (Hebebühne, auf der Stelle laufen), dessen Textzeilen die Botschaft vermitteln sollen: Mädels, hört auf, euch anzuzicken, und haltet stattdessen zusammen. Sie habe schon oft Streits zwischen Frauen erlebt, die sich später als unnötig erwiesen haben, erzählt Kästel nach der Show im Interview. Für die beiden Sängerinnen könnte es schwer werden mit ihrem musikalisch eher gewöhnlichen Song einen der ersten Plätze beim ESC-Finale am 18. Mai zu ergattern. Vielleicht wird ihnen ihr Vorbild helfen: Truman trat schon als Elfjährige als Lena-Double auf, Kästel ist als Backgroundsängerin Teil des Ensembles der ESC-Gewinnerin von 2010, die für einen kurzen Auftritt mit ihrem aktuellen Song „Thank You“ vorbeischaute.
Zuvor gehörte die 29 Jahre alte Elisabeth Brüchner alias Lilly Among Clouds zu den heimlichen Favoritinnen der Show: gerade wegen der außergewöhnlichen und authentischen Performance ihres Songs „Surprise“. Sie bewegte sich ohne großes tänzerisches Können, aber mit viel Gefühl und Leichtigkeit zu den tragenden Tönen ihrer Musik. So erreichte Brüchner in der Zuschauerwertung mit zehn Punkten den zweiten Platz, musste sich insgesamt aber mit einer Drittplatzierung zufrieden geben.
Nach der Show bleibt die Frage, ob sich das 2018 etablierte neue Auswahlverfahren des NDR bewährt. Brüchner hätte den ersten Platz selbst dann verpasst, wenn die Zuschauer vor dem Fernseher ihr 12 Punkte gegeben hätten und der Sieg von S!sters war nicht annähernd so deutlich wie der von Michael Schulte ein Jahr zuvor. Er hatte mit „You Let Me Walk Alone“ in allen drei Kategorien zwölf Punkte geholt. Schultes Sieg 2018 war so eindeutig, dass Zweifel an dem neuen Auswahlverfahren gar nicht erst aufkamen.
Eine gute Entscheidung vom NDR war es in jedem Fall das Moderatorenteam vom vergangenen Jahr nicht noch einmal zusammen auftreten zu lassen. An Stelle von Elton moderierte nun wieder Barbara Schöneberger, die sich schlagfertig und selbstironisch gab. Über die Tatsache, dass man auch aus zehn Metern Entfernung sah, dass ihre blonden Haare offensichtlich künstlich verlängert worden waren, machte sie sich selbst lustig, als sie einen Herrn im Publikum nach seiner Perücke fragte („Wer im Glashaus sitzt?“). Damit kaschierte sie die müden Scherze von Linda Zervakis, die sich von ihrer Rolle als Nachrichtensprecherin nicht lösen konnte und selbst im schillerndsten ESC-Fan-Sakko noch eine Tagesschau-Requisite entdeckte.