Dirndlfieber : Mit aller Tracht
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Ist die Dirndl-Frage auch in Berlin ein Thema? Aber natürlich Bild: dpa
Dirndl und Lederhosen sind längst aus der Theresienwiese ausgebrochen und vermehren sich weltweit. Die unerschütterliche Lust an der Tracht ist Sehnsucht nach einer Zeit, in denen die Butzenscheiben noch den kalten Wind der Globalisierung abhielten.
Die Fragen zu Dirndl und Lederhose gehen heute weit über München hinaus. Ist der Dirndl-Look auch in Berlin ein Thema? (Natürlich.) Wie verträgt sich Mieder und Schürze mit Apfelwein und Handkäs’? (Passt.) Und muss es Oktoberfeste in Chicago und Kampala geben? (Warum nicht?)

Verantwortlicher Redakteur für das Ressort „Deutschland und die Welt“ und das Frankfurter Allgemeine Magazin.
Denn das Original-Oktoberfest, das am Sonntag in München nach zwei langen Wochen zu Ende geht, hat eine einzigartige Karriere hinter sich. Das größte Volksfest der Welt ist nicht nur ein Exportfaktor ersten Ranges, das den Ruhm des deutschen Bieres in den letzten Winkel trägt. Es hat auch den unvergleichlichen Aufstieg eines Stils befördert, der noch vor einer Generation eher verachtet als belächelt wurde: Dirndl für Frauen und Lederhosen für Männer sind heute ein Großtrend.
Da mögen zur Wiesn-Zeit in Mailand und Paris die Designer-Schauen über die Bühne gegangen sein – wie fad im Vergleich zum Laufsteg Wirtsbudenstraße. Die Alltagsmode mag sich weiter der Häresie der Formlosigkeit aus durchlöcherten Jeans, bunten Turnschuhen und rapperhaften Kapuzenjacken hingeben – ein schlechter Witz im Licht der bayerischen Kleidung, die Wunder vollbringt, nämlich Ungläubige zur Tradition bekehrt, Unförmige in Form bringt, Schattenfiguren zu Lichtgestalten befördert.
Vermutlich stützen Alkoholgenuss und Gemeinschaftserlebnis den wohlwollenden Blick auf das Dirndl. Aber es können nicht nur massenhysterische Ausbrüche der Erlebnisgesellschaft sein, wenn sogar trendbewusste Moderedakteurinnen direkt aus dem Hippodrom ein Dirndl-Selbstbildnis auf Facebook stellen mit der so begeisterten wie verzweifelten Zeile: „Sch..., wir sind Volksfest-Typen!“
So schlimm ist das alles nicht. Die Lust an der Tracht korrespondiert natürlich mit den Anforderungen der Event-Kultur, Marketing und Klamauk nett zu verpacken. Das Dirndl stillt auch das kindliche und mit zunehmendem Alter kindische Bedürfnis, in immer anderen Selbstentwürfen neue Rollen auszuprobieren. Es kommt erst recht der Lust zur Verkleidung entgegen, die von sich abzulenken vorgibt, um in Wirklichkeit auf sich aufmerksam zu machen. Aber das Dirndl ist auch ein offenes Bekenntnis zu der ethnologischen Erkenntnis, dass schon die ersten Menschen Kleidung nicht nur zum Schutz trugen, sondern vor allem auch als Schmuck.
Wenn man seinen persönlichen Stil als „Konkretisierung von Identität“ versteht, den Stil der anderen als „Anhaltspunkt alltagssoziologischer Typisierungen“, wie der Soziologe Gerhard Schulze schreibt, dann ergeben sich daraus für Dirndl und Lederhose reichhaltige Folgen. Mit der Tracht, also dem zeitbeständigen Bekleidungsstil, setzt man sich über saisonale Verirrungen hinweg und festigt gleichzeitig ein Selbstbild, das den Tag überdauert – das ist ja auch nicht mehr selbstverständlich. Zudem ist ein Dirndl natürlich eine Uniform, aber in einer Gestaltungsvielfalt, die der Liberalitas Bavariae entspricht.
Was wiederum unendliche Gespräche darüber ermöglicht, was nun eine Schleife links oder rechts zu bedeuten hat und wo zu kurz, zu lang, zu tief, zu weit, zu bunt, zu wenig beginnt. Nirgends hat die deutsche Gesellschaft in den letzten Wochen ihre Wertvorstellungen so genau bemessen wie auf der Theresienwiese.
Nun gut, die Bundestagswahlen waren auch so ein Anlass. Angela Merkels Wahlsieg passt hervorragend in die Dirndl-Theorie, dass Stabilität und Gleichheit zu einem Gefühl der Sicherheit in volatilen Zeiten führen. Das Dirndl ist zugleich die Antwort auf die Hosenanzüge der Kanzlerin. Denn die zeitgemäße Businessfrau scheint sich gern nach 17 Uhr (in München auch früher) aus den Unisex-Nadelstreifen zu schälen und in eine ländliche Kultur zu schlüpfen, in der sie noch Mutter und Landfrau und Hausfrau war. Oder gar: sein durfte?
Diese Zeit ist mittlerweile so weit entfernt, dass man sie wieder schätzen kann. Nicht die Eltern der Wiesn-Besucher von heute waren Bauern, sondern die Großeltern oder Urgroßeltern. Und so wie man seine Kinder heute wieder Emil, Heinrich oder Charlotte nennen darf, so kann man sich auch im Freizeitverhalten – womöglich per Vintage-Dirndl – ein Jahrhundert zurückversetzen.
Die Illusion von der guten alten Zeit
So wie die Jeans, ebenfalls ursprünglich ein ländliches Kleidungsstück, als urbanes Gegenmittel zur Tradition eingesetzt wurde, so zeigen Dirndl und Lederhose eine Generation später, dass man in seiner metaphysischen Obdachlosigkeit die ländlich-sittlichen Werte auf vertrackte Weise doch vermisst.
Wenn man sich Traditionsbestände auf den Leib legt, verklärt man natürlich romantisierend das eigentlich so schwere und teils brutale Leben auf dem Lande. Auch das ist zeittypisch. Vom Joghurt „Landliebe“ bis zur Zeitschrift „Landlust“ gibt man sich eben gerne der Illusion von den guten alten Zeiten hin, in denen die Butzenscheiben noch den kalten Wind der Globalisierung abhielten.
Niemand will ernsthaft in die alten Zeiten zurück. Aber in virtuellen Zeiten ist alles irgendwie möglich. Ein Model schrieb aus dem Bierzelt auf Facebook: „Today 100% German! Grüss Gott und Prost!“ Ganz ernst darf man das nicht nehmen. Denn heute wird nichts mehr so substantialistisch gegessen, wie es einst gebraten wurde. Außer natürlich auf der Wiesn, in der Hendl- und Entenbraterei.