Chemnitz kopflos : Auf Augenhöhe mit Marx
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Marx mal ganz nah: Der Koloss auf Augenhöhe Bild:
Chemnitz ist kopflos: Der größte Nischel der Stadt ist in einer Kunstaktion verhüllt worden. Karl Marx kann man nun über ein Gerüst näherkommen. Man will einen neuen Blick provozieren - nicht nur auf den berühmten Kommunisten.
Chemnitz hat seinen größten Kopf verloren - zumindest vorübergehend. Bis Ende August bleibt die monumentale, samt granitverkleidetem Podest mehr als zehn Meter hohe Marx-Büste des russischen Bildhauers Lew Kerbel hinter einer Konstruktion aus Gerüststangen und weißer Plane verborgen. Die Kunstaktion mit dem ironischen Titel „Museum of Modern Marx“ haben Kunststudenten aus Sachsen und Österreich mit dem Leiter der Neuen Sächsischen Galerie in Chemnitz, Mathias Lindner, ersonnen. Man will einen neuen Blick nicht nur auf Marx provozieren.

Politischer Korrespondent in Nordrhein-Westfalen.
Im Inneren des Kubus braucht man sich nicht mehr wie bislang ziemlich zu verrenken, um dem grimmig dreinschauenden Nischel (sächsisch für Kopf oder Schädel) einigermaßen ins Gesicht zu schauen. Nun kann man über Treppen und Podeste einmal um Marx herumsteigen, der dabei mit seinen wallenden Haarflächen wie ein verwitterter Fels wirkt. Auf einer Zwischenebene können die Chemnitzer ihrem Nischel dann zum ersten Mal seit seiner Enthüllung vor 37 Jahren auf Augenhöhe gegenübertreten.
Für Anfänger gibt es dort ein Radiofeature als Einstieg ins Marxsche Denken. Eine weitere Windung, und schon ist man Marx auf den Kopf gestiegen und kann von einem zugigen Podest aus sehen, auf was Marx schaut: ein heruntergekommenes DDR-museales Ensemble, das nach Sonnenuntergang regelmäßig zur No-go-Area wird.
Stadt mit Köpfchen
Zu DDR-Zeiten sollte Chemnitz, das die SED-Machthaber schon 1953 in Karl-Marx-Stadt umbenannt hatten, zu einer Musterstadt „sozialistischen Typs“ geformt werden. Und dafür brauchte man breiten Raum samt Monument. Eigentlich war dabei zunächst an eine Statue gedacht. Doch Kerbel wies darauf hin, dass die Massen, die an sozialistischen Hochfesten aufzumarschieren hatten, von dem gewünschten Koloss von Karl-Marx-Stadt bestenfalls die Schuhe hätten sehen können. Deshalb erhielt der Künstler den Zuschlag für seinen Kopf-Entwurf.
Die Verhüllungsaktion soll die Chemnitzer anregen, über sich, die städtebauliche Entwicklung ihrer Kommune und ihre merkwürdige Beziehung zu „ihrem“ Marx nachzudenken, hofft Lindner. Denn an ihrem Nischel hängen die Chemnitzer sehr. Als sie 1990 beschlossen, das ihnen 37 Jahre zuvor aufgezwungene Karl-Marx-Stadt zugunsten des Namens ihrer Kommune fallen zu lassen, hielten sie an ihrem Nischel fest. Längst war der Dickschädel zu einem weitgehend unpolitischen Maskottchen der Stadt geworden, was der Nachwende-Leitspruch „Stadt mit Köpfchen“ ebenso wie der reichlich feilgebotene Marx-Kitsch verdeutlicht. Den Schädel gibt es aus Plastik und aus Schokolade, als Räuchermännchen und als Spardose für „Mein Kapital“.
Der Nischel ist nicht ausleihbar
Lindner wundert sich noch immer darüber, dass der Schädel, obwohl Marx nie etwas mit Chemnitz zu tun hatte, bis heute eine so starke Bindekraft für viele in der Stadt hat. Anders als in der Nachwendezeit fordert kaum jemand noch den Abriss des Monuments. Im Sommer vor einem Jahr wollte ein litauischer Künstler die Plastik von Chemnitz ausleihen, um sie für einige Wochen in Münster zu zeigen. Doch als ein Sturm der Entrüstung in Chemnitz losbrach, ließ man davon ebenso ab wie von dem Kompromissvorschlag, einen Nischel-Abguss zu fertigen. Im Sinne der örtlichen Nischel-Bindung beschied Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD): „Wer tatsächlich Interesse an der Monumentalplastik hat, der muss nach Chemnitz kommen.“
Lindner und seine Studenten allerdings waren zunächst etwas enttäuscht, hatten sie doch geplant, den leeren Sockel bis zu Nischels Rückkehr „künstlerisch zu bespielen“. Doch wenig später kam ihnen die Idee, Marx einfach einzuhausen. Schon im vergangenen Jahr forderten sie die Bürger auf, unter dem Motto „Gebt uns euer Kapital“ Marxsches Schriftgut aus volkseigener Verlagsproduktion symbolisch abzuliefern und dabei miteinander ins Gespräch zu kommen. In einem Teil der Bücher kann man nun im Inneren des weißen Kubus blättern. Um dorthin zu gelangen, muss man zwei Euro zahlen. So viel Eigenkapital ist aufzubringen, weil sich die Aktion - abgesehen von einem geringen Zuschuss der Stadt und Zuwendungen von Sponsoren - in der Chemnitzer freien Marxwirtschaft selbst tragen muss.