Als Peter Görgen vor ein paar Wochen plötzlich keinen Flüchtlingscontainer mehr auftreiben konnte, hatte er eine Idee: Wir bauen einfach selbst welche. Görgen ist ehrenamtlicher Helfer beim Technischen Hilfswerk (THW) und Ingenieur im Ruhestand, geplant und geholfen hat er sein Leben lang. Also setzte er sich an einem Freitagabend in Bonn an seinen Schreibtisch und zeichnete einen Entwurf. Aus Beton-Fertigteilen sollten die Container sein, um sie schnell und billig produzieren zu können; eine Bodenplatte, vier Seitenteile mit Aussparungen für drei Fenster und die Tür, ein Dach, fertig.

13,5 Quadratmeter Zuflucht
11. November 2015Von OLIVER GEORGI (Text) und PATRICIA KÜHFUSS (Fotos und Video)
370.000 Unterkünfte für Flüchtlinge fehlen nach einer Studie derzeit in den Kommunen. Die Idee eines Bonner Ingenieurs könnte Abhilfe schaffen. Seine „Beton-Shelter“ sollen bei der Erstaufnahme eine Alternative zu Zelten und Containern bieten. Die Behelfsunterkünfte sind simpel, aber effizient.
© Patricia Kühfuss Der Gedanke kam Peter Görgen, als er endgültig keine Container mehr für Flüchtlinge auftreiben konnte: „Jetzt bauen wir einfach selber welche.“
„Der Entwurf war nach dem Wochenende fertig“, sagt Görgen. Am Montag fuhr er damit zu einem befreundeten Betonunternehmer nach Andernach. Der überarbeitete die Pläne, am Freitag darauf stand der erste Prototyp. Fünf Tage für 13,5 Quadratmeter ohne Krieg und Angst.
„Beton-Shelter“ nennt Görgen sein Projekt, gedacht ist es als Behelfsunterkunft für die Erstaufnahme von Flüchtlingen, als Alternative zu Zelten und größeren Containern. Vier bis fünf Personen passen in einen Shelter, mit viel gutem Willen auch mal acht, wenn eine größere Familie zusammen untergebracht werden soll. „Der Vorteil der Shelter gegenüber anderen Unterkünften: Sie sind leicht zu fertigen und nicht so teuer“, sagt Görgen. 10.000 bis 15.000 Euro kostet eine Einheit, ähnlich viel wie herkömmliche Flüchtlingscontainer, die aber vielerorts längst ausverkauft sind. Dafür seien die Shelter vielseitiger – und ihre Fertigung dauere nur ein paar Tage. „Sie sind aufgebaut wie ein Modulsystem: Man kann sie als reine Wohncontainer nutzen, aber auch leicht einen Dusch- oder Toilettencontainer daraus machen.“
Installationen werden einfach auf die Betonwände gedübelt, Fenster und Türen kommen aus dem Baumarkt und werden im Werk direkt mit einbetoniert. „Das ist nicht hübsch, aber schnell, solide und praktisch“, sagt Görgen. Und sehr mobil: Ein Betonhaus wiegt mit 22 Tonnen zwar viel, passt wegen seiner geringen Größe aber auf einen Tieflader. Mit herkömmlicher Wärmedämmung kann man die Container schnell winterfest machen – selbst wenn sie schon von Flüchtlingen bewohnt werden. Innen reicht ein Elektrodecken-Heizkörper – ein großer Vorteil gegenüber Zelten, in denen Tausende Flüchtlinge den Winter fürchten. „In den Zelten bildet sich bei Feuchtigkeit Kondenswasser, dann ist alles klamm.“ Außerdem stünden die Zelte in vielen Flüchtlingslagern zu dicht. „Brandschutztechnisch ist das eine Katastrophe.“
Bambi für selbstloses Engagement
Peter Görgen weiß, wovon er spricht. Seit dem Jahr 2000 berät der Sechsundsechzigjährige das THW als Baufachberater bei nationalen und internationalen Hilfseinsätzen, seit 1994 unterstützt Görgen das THW, die EU und das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen als Experte bei der Unterbringung von Flüchtlingen. Alles ehrenamtlich und bis zu seiner Verrentung im vergangenen Jahr neben seiner Arbeit als Ingenieur im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung in Bonn. Görgen errichtete Flüchtlingslager im Iran und im Tschad, baute Wohnungen in Bosnien und Hercegovina und Brunnen im Sudan, half nach dem Tsunami in Südostasien bei der Suche nach Vermissten. 2005, nach dem verheerenden Erdbeben in Pakistan, grub er in den Trümmern nach Verschütteten. Wenn irgendwo auf der Welt eine Katastrophe geschieht, fährt Görgen hin, bis heute. 2005 erhielt er für seinen „selbstlosen Einsatz bei Naturkatastrophen“ gemeinsam mit dem THW einen Bambi.
Für Görgens simple, aber effektive Flüchtlingsunterkunft interessiert sich mittlerweile auch die rheinland-pfälzische Landesregierung. Nach einer Studie der Unternehmensberatung Ernst & Young fehlen in den Kommunen derzeit 370.000 Plätze für die Unterbringung von Flüchtlingen - da ist die Politik für jedes neue Gedankenspiel dankbar. Ende September ließ sich eine Delegation aus Mainz die Shelter in Andernach von Görgen und dem Betonunternehmer Martin Hachmeister vorführen. „Sie haben gleich 150 Einheiten bestellt“, sagt Hachmeister. 50 wurden binnen einer Woche produziert, die Teile für weitere 50 stehen bereit.
Schon in wenigen Wochen werden die ersten Beton-Shelter von Flüchtlingen bezogen werden. In einer Art Pilotprojekt errichtet das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) auf dem Gelände seiner Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ) in Bad Neuenahr-Ahrweiler ein Dorf aus 60 Einheiten – Amtshilfe für die rheinland-pfälzische Landesregierung. Sechs Shelter sind als Dusch- und Toiletteneinheiten ausgebaut und werden schon genutzt, der Rest soll bis Ende November fertig sein. Dann sollen die 300 Flüchtlinge, die seit Mitte September auf dem Gelände in einer Turnhalle und einer beheizbaren Garage untergebracht sind, in die neuen Unterkünfte umziehen. „Die Shelter sind viel stabiler als die großen Flüchtlingszelte, das macht sie so attraktiv“, sagt BBK-Sprecher Wahid Samimy. „Und sie sind wahnsinnig schnell auf- und wieder abgebaut. Wenn man sie nicht mehr braucht, kann man einzelne Einheiten einfach wieder entfernen.“ Das ist ein Vorteil gegenüber anderen Unterkünften wie den Holzhäusern, die gerade auf dem Flughafen Hahn in Rheinland-Pfalz errichtet werden. Dort können pro Haus nach Angaben des rheinland-pfälzischen Finanzministeriums zwar rund 200 Flüchtlinge untergebracht werden, der Bau dauert mit rund 70 Tagen aber viel länger. Auch sind die Holzhäuser mit einer Länge von 33 Metern und mehreren Stockwerken nicht so flexibel einsetzbar.
Billiger als Mietcontainer
Für das Land geben aber vor allem Kosten und Verfügbarkeit den Ausschlag. „Die Beton-Shelter sind für uns billiger als das Mieten von Metallcontainern“, sagt Rainer Zementz von der Entwicklungsagentur Rheinland-Pfalz, die im Auftrag des Landes nach Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge sucht. Noch wichtiger: „Sie werden in der Region produziert, deshalb sind sie sehr schnell verfügbar.“
Solche Vorzüge sprechen sich schnell herum. Auch aus Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Hamburg gibt es schon Anfragen, sagt Betonunternehmer Hachmeister, insgesamt für mehr als 2000 Stück. Unter den Interessenten seien aber viele „private Profiteure“, die sich als Mitarbeiter von Behörden ausgäben und die Flüchtlingskrise zu Geld machen wollten. „Wir nehmen sowieso nur Aufträge von Krisenstäben und Behörden an“, sagt der Unternehmer. „Aber die schwarzen Schafe, die müssen Sie erst mal rausfiltern.“
Auf der Baustelle in Ahrweiler wächst die Zahl der Shelter derweil jeden Tag. Ein großer Kran hebt die einzelnen Betonmodule auf die Bodenplatte, dann werden sie verschraubt und gedämmt. Wenn die Häuser fertig sind, immer zwei aneinander, werden sie der Optik wegen noch verputzt – was Peter Görgen auf seine pragmatische Art „zu viel des Guten“ findet. „Wie die Häuser von außen aussehen, ist doch egal. Hauptsache, drinnen ist es ordentlich.“ Ein Patent hat Görgen auf seine Beton-Shelter übrigens nicht angemeldet: „Ich will daran ja nichts verdienen.“
Quelle: F.A.Z.
Veröffentlicht: 11.11.2015 13:07 Uhr
