Bildungsdebatte : „Unsere Schule schadet den Jungs“
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Jungen beim Jungssein: Das geht nicht immer leise und ordentlich vonstatten. Bild: Entertainment Pictures / eyevine
Still sitzen ist nix für richtige Kerle, findet die Lehrerin Birgit Gegier Steiner. Es muss im Unterricht mehr getobt werden.
Frau Steiner, Sie schreiben, dass die Erziehung heute nicht mehr jungengerecht ist. Warum?
Eine junge Pädagogin brachte mich darauf. Sie machte im Unterricht ein Wörterwettspiel zwischen Jungen und Mädchen. Die Mädchen blieben auf ihren Stühlen sitzen, tauschten sich aus und reichten die Information an ihre Vertreterin weiter. Aber die Jungs hielt es nicht auf den Stühlen. Einer kletterte auf den Tisch und engagierte sich lautstark, einer lag bäuchlings auf dem Tisch und streckte den Arm wie einen Pfeil nach vorne. Die Mädchen suchten den kommunikativen Austausch, um ans Ziel zu kommen. Die Jungen wollten schneller und besser sein, wollten den Wettbewerb. Im Moment ist aber das personifizierte, individuelle Lernen in Mode. Die Schüler sitzen fast nur über ihren Arbeitsblättern. Sie sollen über sich selbst reflektieren und herausfinden: Wie werde ich besser? Aber Jungs wollen durch Berühren lernen, durch Technik und Handeln. Sie erkunden ihre Umwelt mit allen Sinnen. Das unterbinden wir in der Schule. Unsere Bildungspläne sind sehr schreib- und sprachlastig geworden, alles läuft über Literatur und Textverständnis. Die Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften, das Experimentieren und Ausprobieren kommen zu kurz. Das ist zum Schaden der Jungs.
Sie meinen, dass wir seit 1968 vor allem die Mädchen fördern. War die konservative Erziehung davor denn mehr im Sinne der Jungen?
Ja. Es herrschte ein anderer Charakter von Disziplin. Ich selbst saß noch in einem Klassenzimmer mit vierzig Kindern. Da war Ruhe. Die Inhalte waren in Grundschulbereich kaum anders als heute. Aber es gab klare Strukturen, Regeln wurden stringenter durchgehalten. Und die Männer als Lehrer waren präsenter.
Ist es entscheidend, ob die Lehrer männlich oder weiblich sind?
Wenn wir Frauen uns in einen Jungen hineinversetzen, ihn so akzeptieren, wie er ist, dann können wir ihn genauso gut unterstützen wie ein Mann.
Ich höre an Ihrer Antwort heraus, dass Sie meinen, dass viele Frauen Jungs nicht akzeptieren.
Ich beobachte an anderen Frauen und auch an mir selbst eine Tendenz, das Gegenüber verändern zu wollen. Eigene Werte und Einstellungen auf den anderen überzustülpen. Auch bei ganz banalen Dingen im Haushalt ertappe ich mich selber dabei. Ich versuche, meinem Mann vorzuschreiben, wie er den Keller einzuräumen hat oder wo die Schuhe hinzustellen sind. Umgekehrt habe ich noch nie den Versuch gespürt, dass ein Mann mich verändern will. Man hat mich so akzeptiert.
Wie erklären Sie sich das?
Wir Frauen waren biologisch schon immer dafür da, die erste Erziehungsarbeit zu übernehmen. Das weibliche Wesen hat den Nesthocker noch bei sich und muss ihn auf die Welt vorbereiten. Das ist so in uns drin, dass wir es auf andere Menschen übertragen wollen.
Sie leiten eine Grundschule im Kreis Konstanz. Was erleben Sie dort?
Ich habe mit jungen Kolleginnen zu tun, die vielfältige Methoden anwenden und die Jungen dabei auch im Blick behalten. Allerdings reagieren die Mütter häufig sehr ängstlich und bilden eine Schutzhaube über ihre Jungs. Wir kommen dann gar nicht beim Kind an. Aber wir brauchen Angebote speziell für Jungen. Wenn zum Beispiel Frauen Geschichten für Schulbücher schreiben, dann sind die immer sehr nett. Es fehlen die Piraten, die Räuber.
Star Wars.
Das interessiert Jungs. Wir haben eine Experimentierwerkstatt, wo besonders die Jungen begeistert Experimente machen, mit weißen Kitteln und Schutzbrillen. Das darf auch ein bisschen gefährlich wirken. Gestern haben sie sich den Versuch mit dem Teebeutel gewünscht. Kennen Sie den? Sie nehmen einen Teebeutel, unten geöffnet und geleert. Das ergibt dann eine lange, schlauchartige Hülle, und wenn Sie die unten anzünden, geht der Teebeutel nach oben wie eine Rakete. Er verbrennt in der Luft. Als die Stunde zu Ende war, musste ich drei Jungen regelrecht nach draußen tragen, weil sie gar nicht mehr aufhören wollten.
Aber im normalen Unterricht müssen doch auch die wilden Kerle stillsitzen.