Bevorzugung eines Kindes : Pass auf, sonst wirst du wie dein Bruder
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In einer Familie kann die dauerhafte Bevorzugung eines Kindes gravierende Folgen haben. Bild: Illustration Jan Bazing
Eltern lieben alle ihre Kinder gleich, heißt es. Doch manche ziehen insgeheim eines vor. So etwas kann schlimme Folgen haben – selbst für das Lieblingskind.
Zu Beginn der zweiten Schwangerschaft beschlich sie eine Sorge: Würde sie das Baby je so lieben können wie ihr erstes Kind? So absolut und beinahe schmerzhaft, wie sie es nie zuvor gekannt hatte? Eva Busch-Sandner erinnert sich bis heute an jenen Moment nach der Geburt ihrer Tochter, als sie plötzlich von dem Gefühl überwältigt wurde, dass sie für dieses kleine Geschöpf ihr Leben geben würde. Wenn es sein müsste, würde sie sich vor jedes Auto werfen. Und jetzt Nummer zwei. War Mutterliebe wiederholbar? Oder, wie Eva Busch-Sandner es ausdrückt: „Wie kann ich mein Herz nochmal teilen?“
Dann kam Max, und die Liebe war da. Sofort. Der Junge war schon als Säugling eine Erscheinung. Er schien in sich zu ruhen. „Der bringt etwas mit, das wir alle so nicht haben“, sagte sein Vater. Eva Busch-Sandner lächelt versonnen. Was für ein Kind. Fröhlich, anschmiegsam, pflegeleicht. Mit seinem Charme wickelte Max schon die Hebamme ein, jahrelang konnten die Eltern ihm kaum böse sein.
Ein spezielles Gebot für Eltern
Nur einen Haken hatte die neue Liebe. Johanna. Jeden Morgen, wenn Eva Busch-Sandner ihre große Tochter im Kindergarten abgab, kam das schlechte Gewissen. Weil sie sich auf die Stunden allein mit ihrem Baby freute, ohne dass die Große störte. Ihre Erstgeborene war ein anstrengendes Kind gewesen. Sie hatte viel geschrien und war häufig krank, ihre eigene Unsicherheit als Mutter machte die Sache nicht besser. Jetzt kam die Eifersucht auf den Bruder hinzu. Und natürlich war der Alltag mit zwei kleinen Kindern anstrengender als die Vormittage mit dem Baby. „Wir haben viel mit Johanna geschimpft“, sagt Eva Busch-Sandner. Aber der Kleine ließ sich auch so herrlich knuddeln! Nahm sie die Große auf den Schoß, bohrten sich kantige Knochen in ihr Bein.
Eva Busch-Sandner heißt nicht Eva Busch-Sandner. Alle Eltern und Kinder in diesem Artikel haben neue Namen bekommen. Weil sie vielleicht zum ersten Mal ausgesprochen haben, dass sie sich einem ihrer Kinder näher fühlen als den anderen. Weil es bis heute zwischen den längst erwachsenen Geschwistern steht, wenn einer das Lieblingskind gewesen ist. Niemals, sagt Eva Busch-Sandner, dürfe Johanna erfahren, wie ihr früher zumute gewesen sei. Schließlich fürchtete sie, ihre Tochter zu verraten. Sie spürte diese besondere Wärme für Max. Aber sie dachte: „Das darf so nicht sein.“
Es ist, als gäbe es ein spezielles Gebot für Eltern: Du sollst deine Kinder gleich lieben. Denn nur ein gerechter Vater ist ein guter Vater. Und nur eine gerechte Mutter ist eine gute Mutter.
Schieflage in etwa jeder fünften Familie
Dabei sagt Franz Neyer, Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Universität Jena: „Dass Eltern-Kind-Beziehungen häufig ambivalent sein können und es Konflikte gibt, ist normal.“ Neyer rät zur Gelassenheit. Die Kinder selbst trügen mit ihrer Persönlichkeit dazu bei, dass sich die Beziehungen unterschieden. Rivalität unter Geschwistern – evolutionsbedingt um materielle Ressourcen, heute um die elterliche Gunst – sei normal. Zwar brauchten Kinder Fürsorge und Bindung, Zuwendung und Sicherheit. Aber sie müssten auch lernen, zu teilen und Frustration auszuhalten. Die verbreitete Vorstellung, Eltern müssten alles geben, damit es dem Nachwuchs an nichts fehle, hält der Psychologe für übertrieben: „Wir wissen, dass Eltern heute ihre Bedeutung und ihren Einfluss auf die Entwicklung der Kinder überschätzen.“
Das mag eine Entlastung sein; eine Entwarnung ist es nicht. Vor allem in Amerika ist das Lieblingskinderwesen seit einigen Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Demzufolge gibt es in den meisten Familien – je nach Studie in 70 bis 95 Prozent – zumindest vorübergehend Phasen, in denen Eltern ihre Kinder unterschiedlich behandeln. Dauerhaft und ausgeprägt ist diese Schieflage in etwa jeder fünften Familie.