Ärzte in Krisengebieten : Keine Zeit zum Weinen
- -Aktualisiert am
Mut machen und nicht zu viele Fragen stellen - das sehen Ärzte und Krankenschwestern im „Emergency Hospital“ in Kabul als ihre Aufgabe. Bild: Reuters
Viele Ärzte und Medizinstudenten reisen regelmäßig aus der friedlichen Heimat in Kriegsgebiete, um zu helfen. Kein Lehrbuch der Welt bereitet sie auf das vor, was sie bei diesen Einsätzen erleben.
Am 7. Juni 2014 piept das Funkgerät schon um drei Uhr morgens. „Falcon eins-eins, Falcon eins-eins, sofort in die Notaufnahme!“, schallt es aus dem Lautsprecher - die Stimme klingt eindringlicher als sonst. Lorenzo Mattioli reißt die Augen auf, Adrenalin schießt durch seinen Körper, er ahnt, was das bedeutet.
Acht Minuten braucht Mattioli, dann steht der Italiener in grüner OP-Kleidung und Stethoskop in den Ohren im Operationssaal eines Kabuler Krankenhauses für Kriegsopfer. Durch die Türen der Notaufnahme kommt das Elend auf Tragen hereingefahren. Männer, Frauen, Kinder, Greise, ohne Beine, ohne Arme, mit offenem Kopf, mit offenem Unterkörper. Sie schreien, sie weinen. Es riecht nach Blut.
„Wie viele Verletzte?“, fragt Mattioli.
„Mindestens zehn“, sagt der leitende Oberarzt.
„Woher?“
„Hochzeit in einem Hotel. Selbstmordattentäter.“
„Verdammt!“
Mattioli und seine Kollegen operieren und amputieren, „wir funktionieren sieben Stunden lang, bis um zehn Uhr morgens“ - so beschreibt der 34-Jährige die ganze Episode in seinem Tagebuch, das er der F.A.S. in Auszügen zur Verfügung gestellt hat.
Als die Ärzte glauben, das Gröbste sei geschafft, quietschen vor der Notaufnahme erneut die Reifen der Rettungswagen. „Bombenexplosion bei einer Kundgebung in Kabul, 19 Verletzte, wir operieren bis spätabends, keine Minute gesessen, ein Albtraum“, wird Mattioli notieren.
Vor allem Kinder immer häufiger im Kreuzfeuer
Seit über 13 Jahren tobt der Krieg in Afghanistan, heute kämpfen afghanische Armee und Polizei mit mäßigem Erfolg gegen die radikalislamischen Taliban und das Terrornetzwerk Al Qaida. Bis Ende des vergangenen Jahres wurden sie dabei von der internationalen Schutztruppe Isaf unterstützt, doch deren Mandat ist am 31. Dezember 2014 ausgelaufen. Von einst 140.000 ausländischen Soldaten sollen nur etwa 10 800 Amerikaner und 4000 Mann der Nato-Verbündeten im Land bleiben, darunter bis zu 850 Deutsche.
Politisch und wirtschaftlich stabilisieren konnte die internationale Koalition Afghanistan nicht. Korruption und Drogenhandel blühen, die Arbeitslosigkeit ist hoch, und für Zivilisten ist das Leben in den vergangenen Monaten immer gefährlicher geworden - fast wöchentlich sprengt sich ein Attentäter in die Luft.
Die italienische Hilfsorganisation „Emergency“, die in Kabul, Lashkar Gah und Anabah drei Krankenhäuser für Kriegsopfer betreibt, zählte im vergangenen Jahr 30 Prozent mehr Verletzte als 2013 und 70 Prozent mehr als 2012. Allein im Juli nahm das Kabuler Hospital 326 Menschen auf - mehr als je zuvor. Vor allem Kinder geraten immer öfter ins Kreuzfeuer. Im ersten Halbjahr 2014 kamen mindestens 295 Minderjährige ums Leben, 776 wurden verletzt.
Mattioli: „Kein Buch kann dich vorbereiten“
Lorenzo Mattioli, ein drahtiger Mann mit Mittelglatze, Dreitagebart und eckiger Brille, studierte Anästhesie und Intensivmedizin an der San-Raffaele-Universität in Mailand. Er hatte ursprünglich nie vor, Intensivmediziner zu werden, er war ja bereits studierter Pharmakologe, erzählt er. Dann starb sein Vater vor ein paar Jahren bei einem Autounfall, und er beschloss, fortan Leben retten zu wollen. Aber warum zog er dazu in den Krieg? „Weil man Wundverletzungen dort am besten versorgen lernt“, sagt er.