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Fast wie neugeboren

Von DENISE PEIKERT

04.04.2017 · Der chinesische Regisseur Tian Li wurde in jedem Lebensjahr einmal mit seinem Vater fotografiert.

Die Sieben-Jahre-Regel ist eine bequeme Regel, denn sie erklärt immer das, was gerade zufällig zur Debatte steht: den Zahnwechsel beim Schulkind, den stärker werdenden Kinderwunsch um den 28. Geburtstag herum und dass man sich mit 35 plötzlich um so vieles älter fühlt als kürzlich noch. Alle sieben Jahre, heißt es dann gerne mal, ändere sich der Körper, manche Menschen bekämen dann sogar eine ganz andere Figur und andere Haare.

Ein herrliches Smalltalk-Thema, unverfänglich und nachvollziehbar, eines, bei dem man sich immer wieder fragen kann: Ist das jetzt nur ein Mythos, oder ist da auch medizinisch was dran?

© action press Der Regisseur mit seinem Sohn im Jahr seiner Geburt, 1986

Leben nach Jahrsiebten einteilen Zuerst der Mythos: Die Zahl Sieben fasziniert die Menschen schon immer, und wer von „schon immer“ spricht, kommt selten an den alten Griechen vorbei. Der Philosoph Philon von Alexandria hat kurz nach Christi Geburt das Leben generell betrachtet und es auf der Suche nach einem Muster in Jahrsiebte eingeteilt.

Heißt also, frei nach Philon: Im ersten Jahrsiebt kommen die Milchzähne, im zweiten die Geschlechtsreife, im dritten beim Mann der Bart, im fünften wird geheiratet, bevor noch Verstand und Gelassenheit fertig ausgebildet werden. „Im zehnten Jahrsiebt aber“, schreibt der Philosoph, „ist es am besten, zu sterben, da in dem darüber hinaus gehenden Alter der Mensch nur ein gebrechlicher und unnützer Greis ist.“

© action press Vater und Sohn im Jahr 1993.

Allgemeine Gesetze für das Menschenleben Zumindest Letzteres ist inzwischen überholt, die Idee hat es trotzdem in die Neuzeit geschafft. Das liegt vor allem an Rudolf Steiner. Er hat, als er Anfang des 20.Jahrhunderts sein anthroposophisches Weltbild entwickelte, ebenfalls in Jahrsiebten gedacht. Ihm ging es dabei weniger um Milchzähne und Barthaare, sondern vor allem um die Entwicklung der Psyche und des Charakters eines Menschen.

Bis hierhin ist die Sieben-Jahre-Theorie genau das: eine Theorie, die im Leben der Menschen nach allgemeinen Gesetzen sucht. Am stärksten davon geprägt ist heute die Waldorfpädagogik, die von Geburt bis Zahnwechsel, von Zahnwechsel bis Geschlechtsreife und von Geschlechtsreife bis Mündigkeit denkt – wobei moderne Waldorfpädagogen eine allzu starre Phasenlehre ablehnen.

Sieben-Jahres-Rhythmus in der Psychotherapie Nun zur Medizin. Wer etwas über Jahrsiebte in der Klinik wissen will, kann zum Beispiel in Lahnstein in Rheinland-Pfalz anrufen. Dort ist Henning Elsner Chefarzt im psychosomatischen Krankenhaus Lahnhöhe. Elsner hat lange als Internist gearbeitet. Er hatte aber, so erzählt er das, schon immer das Gefühl, dass körperliche Leiden stark mit seelischen zusammenhängen.

© action press Dieses Foto zeigt Vater und Sohn im Jahr 2000.

Heute arbeitet Elsner vor allem psychotherapeutisch, und er sagt, dass er in vielen Biographien seiner Patienten einen Sieben-Jahres-Rhythmus erkenne. „Bestimmte Lebensthemen fallen einem in bestimmten Lebensphasen einfach mehr auf die Füße“, sagt er. Wenn also um den 21. Geburtstag herum etwas ganz anderes passiere, als da vorgesehen sei, eine Abtreibung zum Beispiel, dann sei das manchmal ein Grund für spätere Depressionen oder Angststörungen. „Oft stelle ich mit den Patienten fest, wenn sie dann Jahre später zu mir kommen, dass es damals schon die ersten depressiven Phasen gegeben hat“, sagt Elsner.

Gesetzmäßigkeiten können entlastend wirken Elsner arbeitet ganz konkret mit den Jahrsiebten. Er lässt seine Patienten Fragen zu den einzelnen Lebensabschnitten beantworten. Was war da los in den ersten sieben Jahren? Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Sinneseindruck? Den ersten Teddy? Elsner nennt das eine heilsame Wiederaneignung der eigenen Lebensgeschichte.

© action press Aus den Familienfotos machte Tian Li ein Kunstprojekt. Hier das Foto aus dem Jahr 2007.

Die Jahrsiebte sind auch bei Elsner nichts Festgezurrtes, sondern eine Art Kompass, eine Erleichterung für Therapeuten und Patienten: Man könne sich so an allgemeinen Gesetzmäßigkeiten durch die eigene Biographie hangeln. „Es gibt einfach Herausforderungen, die in bestimmte Lebensphasen gehören – wenn die Menschen sehen, dass da was dran ist, sind sie oft entlastet“, sagt Elsner.

Menschlicher Körper verändert sich Nun beruht die Anthroposophie auf Annahmen und Beobachtungen und versteht sich vorsichtshalber nur als Anregung, selbst über das Leben nachzudenken. Mindestens als Geisteswissenschaft ist sie also immun gegen die Frage, ob es für die Erkenntnisse nun einen medizinischen Beweis gibt oder nicht. Steiner, der Erfinder des anthroposophischen Weltbildes, hat sich trotzdem weiter in die Wissenschaft vorgewagt: „Der Mensch“, schrieb er, „stößt im Laufe von sieben bis acht Jahren seine sämtliche physische Materie ab und erneuert sie.“

Zeit, sich mit der Arbeit des Zellbiologen Jonas Frisen zu beschäftigen. Frisen arbeitet am Karolinska-Institut in Stockholm, eine der angesehensten medizinischen Universitäten in Europa. Er hat, so sagt er das, ein bisschen „Amateur-Forschung“ zu dem Sieben-Jahre-Mythos betrieben – will aber das, was er herausgefunden hat, nicht als Beweis dafür verstanden haben. Dennoch besagen seinen Forschungen: Der Mensch hat tatsächlich alle sieben bis zehn Jahre einen völlig neuen Körper – die Veränderungen finden nur unterschiedlich schnell statt.

Frisen errechnete Lebensdauer von Körperteilen Wie genau das abläuft, damit hat Frisen schon 2005 für Furore gesorgt. Er errechnete für verschiedene Teile im Körper die Zeit, die es braucht, bis sie sich einmal komplett ausgetauscht haben.

Es gehört zum menschlichen Dasein dazu, dass Körperzellen absterben und durch neue ersetzt werden. Bei einer heilenden Wunde an der Haut kann man diesen Vorgang gut beobachten. Nach Frisens Forschung dauert es zwei bis vier Tage, bis das Oberflächen-Gewebe im Dünndarm vollständig ersetzt ist und acht, bis unsere Lungenbläschen wie neu sind. Eine Fettzelle lebt dagegen acht Jahre, und etwa alle zehn Jahre haben wir ein neues Skelett.

© action press Im Jahr 2015 hat Tian Li bereits selbst einen Sohn.

Erneuerungsmechanismus für die Medizin nutzen So präzise die Angaben auch sind – an sich ist das Ganze noch ein ziemliches Rätsel. Da ist zum Beispiel das Herz, eine der am stärksten beanspruchten Strukturen unseres Körpers. Frisens neueren Studien von 2015 zufolge bildet das Herz eines jungen Erwachsenen jedes Jahr maximal ein Prozent neue Zellen. Senioren schaffen höchstens noch ein halbes Prozent. Und selbst wer lange lebt, hat am Ende kein ganz neues Herz: Höchstens 40 Prozent der verschiedenen Zellen in dem Organ werden in einem Menschenleben ersetzt.

Frisen sagt: Wenn wir irgendwann verstehen, warum das so ist, können wir die Erneuerung der Körperzellen für Therapien nutzen. Zum Beispiel: Bei Depressiven ist der Hippocampus, eine bestimmte Region im Gehirn, nachweislich verkleinert. Das könne, so der Mediziner aus Stockholm, mit einer krankhaft reduzierten Erneuerungsrate der Nervenzellen in diesem Bereich zu tun haben. Und wer den Mechanismus dahinter verstehe, könne Medikamente dagegen entwickeln.

Die Sieben-Jahre-Regel also nur auf ein Smalltalk-Thema zu reduzieren ist vielleicht doch zu kurz gegriffen. Aber immerhin können Sie jetzt beim nächsten Mal besser mitreden.

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Quelle: F.A.Z.

Veröffentlicht: 04.04.2017 11:23 Uhr