Fotograf Ilir Tsouko : Zukunft in Tschernobyl
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Eine vierköpfige Familie, die vor dem Krieg im Donbass in der Ostukraine geflohen und in die Nähe der Grenze zu Weißrussland gezogen ist. Bild: Ilir Tsouko
Infolge des Krieges in der Ostukraine suchen über eine Million Vertriebene ein neues Zuhause. Einige von ihnen zieht es an einen Ort, der noch immer für Vertreibung und Zerstörung steht: in die Dörfer rund um Tschernobyl. 2019 reisten die Journalistin Lena von Holt und der Fotograf Ilir Tsouko für eine Reportage in die Ukraine.
Gleich hinter dem Grenzzaun zur Sperrzone von Tschernobyl qualmt schwarzer Rauch in den blauen Sommerhimmel. Nur ein paar Sonnenstrahlen schaffen es durch das undichte Wellblechdach der Lagerhalle und machen den aufgewühlten Staub sichtbar. Wadym steht auf dem pechschwarzen Boden, neben ihm dampft es aus einem Kessel. Das Atmen fällt schwer. Wadym verdient sein Geld mit dem, was andere wegwerfen: aus Autoreifen macht er Gas, aus Schlacken Metall, aus Holzresten Kohlebriketts. Nach einem Radius von 30 Kilometern wilder Natur ist Wadyms Metallfabrik das erste Lebenszeichen an einem sonst verlassenen Ort. Fast jedes dritte Haus steht leer, die Ruinen der Kolchosen aus der Sowjetzeit erinnern an bessere Zeiten. Warum würde jemand hierherziehen wollen?
Etwa 1,5 Millionen Binnenvertriebene sind seit Kriegsausbruch 2014 aus der Ostukraine in andere Teile des Landes geflohen. Der Krieg hat ihnen nicht nur Haus und Arbeit genommen, sondern auch ihre Zukunft. Das wenige Geld, das sie vom Staat erhalten, reicht nicht zum Überleben. Und so sind sie auf sich allein gestellt. In der Not zieht es einige von ihnen an einen Ort, der selbst Schauplatz einer Katastrophe war: in jene Dörfer, über die der Wind die radioaktive Wolke vor 33 Jahren weit weg in den Westen der Ukraine und sogar bis zur Grenze nach Belarus wehte. Dort, wo noch heute die Häuser, Straßen und Schulen stehen, dessen Boden der Regen verseucht hat.
Gerade einmal 180 Euro hat Wadym für die alte Schule bezahlt, die schon in wenigen Monaten Touristen beherbergen soll. Doch bis dahin gibt es noch viel zu tun. Vor der blauen Holztür eines alten, fast verfallenen Gebäudes steht Wolodymyr, ein drahtiger Mann mit zerbrechlicher Stimme. Er hilft Wadym dabei, die Schule zu renovieren. Seine Schule. Zumindest war sie es, bevor sie nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 geschlossen wurde. Wolodymyr war 13, als er aus dem Fernsehen von der Explosion erfuhr.
Verfallene Häuser, das günstige Land, für die Flüchtlinge aus dem Donbass bieten die vergessenen Orte auch Chancen. Nach jahrelanger Verwahrlosung finden sie in ihnen neue Pächter. So wie Alexej, der vor fünf Jahren gemeinsam mit seiner Familie aus dem Donbass hierher geflohen ist. Bis 2014 leitete Alexej dort einen großen landwirtschaftlichen Betrieb. Bis der Krieg seine Arbeit unmöglich machte. Alexej, ein breit gebauter Mann mit traditioneller Kosakenfrisur, sitzt im Schatten eines Baumes, gleich gegenüber seinen Feldern. Hier, in der Region Schytomyr, im Norden des Landes, wurden einige Felder erst vor Kurzem wieder für die Landwirtschaft freigegeben. Ungefähr 57 Familien leben heute wieder in dem kleinen Dorf, in dem auch Alexej und seine Familie ein neues Zuhause gefunden haben.
Es sind Vertriebene wie Aleksej, die versuchen, in den verwahrlosten Ortschaften nicht nur das eigene Leben zu verbessern. „Es gibt wieder Arbeitsplätze und Felder“, erzählt Jurij, ein Mitarbeiter Alexejs. Die hätten früher zum größten Teil brach gelegen. Alexej kauft Computertastaturen für die örtliche Schule und räumt im Winter die Wege mit seinen großen Maschinen. „Mir sagen die Einheimischen: ‚Alexej, danke, dass Sie da sind!“
Wadym, Wolodymyr und Alexej – sie erzählen eine Geschichte über Tschernobyl außerhalb der 30-Kilometer-Sperrzone, über Vertreibung, Flucht und Neubeginn.
Ilir Tsouko ist in Albanien geboren, wuchs in Athen auf und absolvierte sein Fotografiestudium an der Hochschule in Hannover. Als visueller Geschichtenerzähler lebt und arbeitet er in Tirana und in Berlin. Tsoukos fotografisches Werk beschäftigt sich mit dem Leben der Menschen, der politischen Situation sowie der Flucht und Migration in Südosteuropa und auf dem Balkan.