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Blinde Fotografie : Das Unsichtbare sichtbar machen

Portrait Sherwood 2022 Bild: Gerald Pirner

Die Welt ist voller Bilder. Nicht jeder kann sie sehen. Der Fotograf Gerald Pirner erobert sich künstlerisch die Welt des Sichtbaren zurück – Bild für Bild.

          5 Min.

          Zwei Menschen befinden sich in einem Glaskasten. Eine Person nimmt eine Körperhaltung ein, die die andere zunächst kopiert und dann mit einer neuen Körperhaltung beantwortet – ein langsamer, tänzerisch anmutender Dialog. Eine Stimme beschreibt in neutralem Tonfall das Geschehen, fasst das Sichtbare in Worte. Die Performance „Vom Ich zum Du“ der Berliner Fotografen Gerald Pirner und Sonia Klausen, die im Februar in einem Schaukasten des Berliner U-Bahnhofs Kleiststraße zu erleben war, war ein künstlerisches Gespräch zwischen einer blinden und einer sehenden Person – erlebbar für sowohl sehende als auch blinde Zuschauer.

          Christine Klein
          Bildredakteurin

          Die Performance war Teil einer Zusammenarbeit, die die beiden als „dialogisches Fotografieren“ beschreiben – die Erschaffung von Bildern im Gespräch. Blindheit und Fotografie scheinen einander auszuschließen. Dass das nicht sein muss, beweist seit Jahren der Fotograf und Performer Gerald Pirner, der trotz des Verlustes seiner Sehkraft seit Jahren im Bereich der künstlerischen Fotografie arbeitet. In seinen Arbeiten untersucht er nicht zuletzt die Frage, inwieweit die Wahrnehmung von Bildern an die Fähigkeit des Sehens gebunden ist.

          „Typhon“, 2018
          „Typhon“, 2018 : Bild: Gerald Pirner

          Die Zusammenarbeit mit anderen Menschen zieht sich wie ein roter Faden durch seine Arbeiten. Er lässt sich beschreiben, was andere sehen, hinterfragt und hakt so lange nach, bis sich die Worte mit seinen inneren Vorstellungen der Bilder decken. Das vermeintliche Handicap – also die Notwendigkeit, Bilder in Sprache zu übersetzen – nutzt er so bewusst als Werkzeug. Denn künstlerische Bilder sind, wie er sagt, auch für Sehende mehr als nur ein schneller Blick durch die Netzhaut.

          Ihre Bedeutungszuschreibung entsteht im Kopf und hat viel mit Erwartungshaltungen zu tun – mit Gewohnheiten und geteiltem Wissen. Für viele seiner Arbeiten nutzt er die Technik des Lightpainting. Ein Lichtstrahl, etwa von einer Taschenlampe, wird dabei in einer Langzeitbelichtung auf ein Objekt oder einen Körper gestrahlt. Dauer, Nähe und Einfallswinkel bestimmen die Intensität des aufgezeichneten Lichts – die Kamera zeichnet Fragmente des Körpers auf. Es entstehen Fotografien, die an Gemälde etwa eines Francis Bacon erinnern.

          „Ins Dunkel I“
          „Ins Dunkel I“ : Bild: Gerald Pirner

          Wann haben Sie begonnen, zu fotografieren? 2015 nahm ich an einem Workshop für blindes Fotografieren teil, in dem ich mit meiner blinden Kollegin Mary Hartwig das Verhältnis von Spüren und Sehen untersuchte. Damals war unsere Ästhetik noch ganz auf die Vorstellungen von Sehenden ausgerichtet. Nach der Begegnung mit Frank Amann, der einen Film über blinde US-amerikanische Fotograf*innen gedreht hatte, luden wir 2017 die New Yorker Fotografin Sonia Soberats zu einem Lightpainting-Workshop ein. Danach war nichts mehr wie vorher. Durch die Berührung waren wir in der Lage, uns das Licht zurückzuerobern.

          Was motiviert Sie, Bilder zu schaffen? Meine Arbeiten verstehe ich als einen Dialog zwischen blindem und visuellem Sehen. Bilder haben für mich mit Spüren und Berühren zu tun, sie sind etwas Körperliches. Dies ist es, was ich blinden Menschen zu vermitteln versuche. Über meine Konzeptionen von Bildern nähere ich mich aber auch meinen eigenen einst gesehenen Bildern wieder an. Ich bin 1989 erblindet, habe also über dreißig Jahre gesehen und inszeniere mir meinen Fundus an Bildern Tag um Tag aufs Neue. Gerade mit Erblindeten diskutiere ich, ob sie sich nicht mittels Fotografie auf den Weg hin zu ihren verlorenen Bildern machen wollen.

          „Der Wirbel (Selbstportrait)“ 2021.
          „Der Wirbel (Selbstportrait)“ 2021. : Bild: Gerald Pirner
          „Der Schatten des Atems“, 2017
          „Der Schatten des Atems“, 2017 : Bild: Gerald Pirner

          Wie entstehen Ihre Bilder konkret? In einem absolut dunklen Raum steht eine Kamera auf Dauerbelichtung. Mit einer Taschenlampe berühre ich meine Modelle sukzessive mit Licht, das von der Kamera aufgezeichnet wird. Es entstehen unterschiedliche Lichtstärken, die ich für meinen Bildaufbau nutze. Meine Assistentin, die die Kamera bedient, beschreibt mir das entstandene Bild. Ich gleiche ihre Beschreibung mit meiner inneren Vorstellung ab und entscheide, ob das Foto das wiedergibt, was ich ausdrücken wollte. Je mehr Beschreibungen von verschiedenen Sehenden ich bekomme, desto präziser meine eigene innere Vorstellung. Im Berliner Fotostudio für blinde Fotograf*innen, das seit 2017 besteht, kann ich meine Vorstellungen umsetzen. Abgesehen von dem Raum stellt das Studio auch Modelle und Assistent*innen. Außerdem finden dort Treffen und Diskussionen zu blinder Fotografie statt.

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