F.A.S. exklusiv : „Wir Krankenkassen schummeln ständig“
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Studierter Chirurg: Jens Baas leitet seit 1. Juli 2012 die Techniker-Krankenkasse. Bild: Lukas Kreibig
Der Chef der größten gesetzlichen Krankenversicherung gibt zu: Kassen und Ärzte machen Patienten auf dem Papier kränker, als sie sind. Ein Interview mit Jens Baas.
Die private Krankenversicherung erhöht die Beiträge um satte zehn Prozent. Droht das bei den gesetzlichen Kassen auch?
Eigentlich müssten auch bei den Kassen die Beiträge im nächsten Jahr, 2018 und 2019 steigen, von heute 15,7 Prozent um jeweils etwa 0,1 bis 0,2 Prozentpunkte. Denn überall wachsen die Ausgaben: bei den Honoraren der Ärzte, in den Krankenhäusern, bei den Medikamenten – übrigens auch durch teure Gesetze. Doch weil Wahljahr ist, wird die Regierung versuchen, zumindest 2017 die Beiträge stabil zu halten. Und sie weiß auch schon, wie: Sie will den Kassen aus den Reserven des Gesundheitsfonds 1,5 Milliarden Euro überweisen. Begründet wird das mit den Kosten für die Behandlung von Flüchtlingen.
So viel kostet die?
Nein. Die Flüchtlinge sind ein vorgeschobener Grund. Das ist unverantwortlich, weil es unnötig Ressentiments gegenüber den Migranten schürt. Wir Kassen haben noch fast keine Zusatzkosten, weil die meisten Flüchtlinge noch im Asylverfahren stecken. Dann tragen die Kommunen die Aufwendungen. Danach werden die Ausgaben vielleicht erst einmal steigen, auch wegen möglicher Gesundheitsprobleme durch die monatelange Flucht. Aber vermutlich nicht in immense Höhen.
Es gibt in der Politik Forderungen, den Zusatzbeitrag nicht nur von den Bürgern, sondern auch von den Arbeitgebern finanzieren zu lassen. Fänden Sie das gut?
Es ist unrealistisch, dass alle Kostensteigerungen der Zukunft immer nur der Versicherte zahlt. Das wird man in der nächsten Legislaturperiode sicher genauer anschauen. Aber man muss auch sehen, dass der Arbeitnehmer den größeren Anteil trägt, weil der Arbeitgeber im Krankheitsfall den Lohn weiter zahlt.
Wenn Sie das Wahlprogramm der Parteien für nächstes Jahr schreiben könnten, was stünde drin?
Langfristig ist kein Platz für die kränkelnde private Krankenversicherung. Es ist einfach ungerecht, das Gesundheitssystem in zwei Klassen zu unterteilen. Aber die Privaten werden ohnehin langfristig verschwinden.
Wenn Sie sich da mal nicht täuschen.
Die Ausgaben steigen hier besonders stark, weil die Ärzte gerne viel abrechnen. Sie sehen das als Ausgleich für die niedrigeren Honorare der Kassen. Hinzu kommt, dass den einzelnen Assekuranzen die kritische Größe fehlt: Die neun Millionen Privatversicherten verteilen sich auf fast 50 Gesellschaften. Außerdem fehlt der Nachwuchs, viele junge Menschen entscheiden sich für die Kassen. Und schließlich belasten die niedrigen Zinsen die Rückstellungen.
Trifft Sie das auch?
Natürlich, wie andere Krankenkassen auch. Unsere Rücklagen bringen jetzt kaum noch ein Prozent an Anlageerträgen ein. Noch vor einigen Jahren waren es vier oder fünf Prozent. Das heißt, die Niedrigzinspolitik kostet uns jährlich mehr als 100 Millionen Euro. Bei einigen Banken müssen wir sogar schon Negativzinsen auf kurzfristige Einlagen zahlen. Das ist verrückt!
Haben Sie noch realistischere Wahlforderungen?
Qualität muss eine größere Rolle spielen. Die Behandlungsqualität ist gut. Es hapert oft eher an der richtigen Indikationsstellung. Das ist schlecht für den Patienten und teuer. Außerdem haben wir zu viele Krankenhausbetten. Es kann auch nicht länger sein, dass der Preis neuer Medikamente, die keinen Zusatznutzen gegenüber vorhandenen Wirkstoffen haben, im ersten Jahr vom Hersteller nach eigenem Gusto festgelegt wird. Und wir brauchen einen neuen Finanzausgleich zwischen den Kassen.
Warum das denn?
Weil er laufend manipuliert wird. Das kostet Milliarden.
Manipuliert? Inwiefern?
Es ist ein Wettbewerb zwischen den Kassen darüber entstanden, wer es schafft, die Ärzte dazu zu bringen, für die Patienten möglichst viele Diagnosen zu dokumentieren. Dann gibt es mehr Geld aus dem Risikostrukturausgleich, der hohe und teure Gesundheitsrisiken unter den einzelnen Kassen ausgleichen soll. Aus einem leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression, das bringt 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall.
Ein Skandal! Wie funktioniert das?
Die Kassen bezahlen zum Beispiel Prämien von zehn Euro je Fall für Ärzte, wenn sie den Patienten auf dem Papier kränker machen. Sie bitten dabei um „Optimierung“ der Codierung. Manche Kassen besuchen die Ärzte dazu persönlich, manche rufen an. Und es gibt Verträge mit Ärztevereinigungen, die mehr und schwerwiegendere Diagnosen zum Ziel haben. Zudem lassen sich die Kassen in diese Richtung beraten. Dafür fallen Honorare an. Für all das haben die Kassen seit 2014 eine Milliarde Euro ausgegeben. Die fehlt für die Behandlung der Patienten. Das ist der Skandal!
Welche Kassen machen das?
Alle, auch wir können uns dem nicht völlig entziehen.
Aber das ist illegal.
Eine Klärung dieser Frage wäre wirklich hilfreich.
Bei welchen Krankheiten kommt das besonders oft vor?
Bei den Volkskrankheiten, also Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und auch psychischen Krankheiten. Bei uns hat sich die Zahl der Fälle von Depressionen in den vergangenen vier Jahren vervierfacht. Und das sicher nicht nur, weil die Leute kränker werden und das Problem weniger stigmatisiert wird.
Wie lukrativ ist das „optimierte“ Abrechnen für die Kassen?
Sehr. Am intensivsten machen das die großen regionalen Kassen. Sie bekommen in diesem Jahr voraussichtlich eine Milliarde Euro mehr, als sie tatsächlich für die Versorgung ihrer Versicherten benötigen. Umgekehrt bekommen die Ersatzkassen wie die TK 700 Millionen Euro weniger, als sie tatsächlich bezahlen müssen. Das hat mit gesundem Wettbewerb nichts zu tun. Ohne diese Manipulationen könnte unser Beitrag um 0,3 Prozentpunkte niedriger liegen.
Und warum stellt die Aufsicht diese Praxis nicht ab?
Weil es die eine Aufsicht nicht gibt. Das Bundesversicherungsamt und die Landesaufsichten sehen das ganz unterschiedlich und agieren nicht einheitlich.
Warum machen Sie die Schummelei öffentlich und klagen sich selbst an?
Weil ich möchte, dass das System manipulationsresistent gemacht wird.
Themenwechsel: Überall wird die Welt digitalisiert, zuletzt wurde Industrie 4.0 zum Schlagwort. Was kann die Digitalisierung des Gesundheitswesens den Patienten bringen?
Die nächste medizinische Revolution findet im Internet statt. Aber ich muss gestehen, die Krankenkassen sind hier erst am Anfang, sagen wir mal Kasse 1.0. Wir können da als Techniker auch nicht so viel allein machen, denn das ganze System funktioniert noch mit ganz viel Papieraufwand. Da müssen alle zusammenarbeiten. Aber die großen Kassen sind alle dabei, das jetzt anzugehen.
Was macht die TK?
Eines unserer größten Projekte ist die digitale Gesundheitsakte. Wir wollen, dass alle Kassen verpflichtet werden, sie ihren Versicherten anzubieten. Ob ein Kunde sie nutzen möchte, bleibt ihm allein überlassen. Hier könnten wichtige Daten wie Diagnosen, verordnete Medikamente, Behandlungsschritte und Röntgenbilder auf einem sicheren Server gespeichert werden.
Was bringt das?
Qualität! Es vermeidet Doppelbehandlungen, weil auch die anderen behandelnden Ärzte sehen könnten, was der Kollege gemacht hat und welche Medikamente der Patient einnimmt. Es hilft dem Versicherten, den Überblick über seinen Zustand und die verordneten Therapien zu bewahren. Und wenn die Daten anonymisiert der Forschung zur Verfügung gestellt werden könnten, nutzt es der Wissenschaft, einen besseren Einblick in den Gesundheitszustand und die Behandlung der Menschen in Deutschland zu bekommen. Hilfreicher Nebeneffekt: Der Arzt wird von unnötiger Bürokratie entlastet und gewinnt Zeit für seine Patienten.
Die Idee kommt uns bekannt vor. Das soll doch die elektronische Gesundheitskarte leisten, die die Regierung mit Milliardenaufwand entwickeln ließ.
Ja, das sollte sie. Aber die Idee ist tot, das war kein Ruhmesblatt von Kassen und den Ärzten. Wir haben uns zerstritten über die Kosten und das, was wir dafür bekommen, aber auch die Folgen der Transparenz. Viele Ärzte und vor allem die Arztlobbygruppen haben Angst vor dieser Transparenz.
Was ist daran so schlimm?
Transparenz ist ein Schreckgespenst im Gesundheitswesen. Viele Ärzte teilen ungern Wissen und Arbeitsmethoden.
Und der Patient will seine Daten nicht freigeben.
In der elektronischen Gesundheitsakte der TK entscheidet nur der Patient, welche Daten er für wen freigibt.
Aber wenn er nicht mitmacht, muss er bestimmt bald mehr bezahlen.
Nein, das auf keinen Fall. Die Nutzung muss freiwillig sein. Wenn der Patient das möchte, können wir ihm spezielle Angebote machen, zum Beispiel wie er eine Verschlimmerung seiner Krankheit verhindern kann.
Wann kommt Ihre digitale Patientenakte?
Bei der TK im nächsten Jahr. Bis Dezember wird entschieden, mit welchem IT-Partner wir das zusammen entwickeln. Ich habe den Eindruck, dass sich alle großen Unternehmen wie SAP oder Siemens dafür interessieren.
Eine Insellösung der TK wird aber nicht viel bringen.
Unser System wird offen sein für alle Kassen. Wir wollen jetzt mal vorangehen, damit etwas in Bewegung kommt. Die Digitalisierung dauert sonst viel zu lange. Viele Daten wie Medikamente, Operationen und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen haben wir eh schon und können sie für die Gesundheitsakte dem Kunden anbieten. So schaffen wir auf jeden Fall einen Mehrwert. Hinzu kommt: Auch die anderen großen Kassen arbeiten an ähnlichen Systemen. Ich hoffe, dass die Politik irgendwann den Rahmen für solche Systeme vorgibt.
Dann sind die Investitionen für die Gesundheitskarte der Regierung und die Terminals bei den Ärzten verloren?
Zum Teil ja. Aber man kann die Karte als Zugang zu unserem System nutzen. Die Ärzte müssen also nicht noch mal investieren.
Wo könnte Digitalisierung noch nützlich für den Patienten sein?
Zum Beispiel in der Telemedizin. Sie ermöglicht die Behandlung zu Hause, ohne dass der Arzt dabei sein muss. So kann Tinnitus mit der Lieblingsmusik des Patienten in einer App behandelt werden. Die individuelle Tinnitus-Frequenz stellt der HNO-Arzt fest. Zudem bieten wir eine Stottertherapie per Internet an. Bei Cochlea-Implantaten für gehörlose Menschen nimmt der Arzt die Einstellungen online vor, der sonst übliche Krankenhausaufenthalt entfällt. Weiteres Beispiel: Wir haben 300.000 TK-Versicherten ein elektronisches Diabetestagebuch angeboten, bei dem der Blutzuckerwert direkt über Bluetooth auf das Smartphone übertragen wird. Und mit dem Start-up-Unternehmen „Patientus“ und Hautärzten haben wir die Videosprechstunde erprobt. Das funktioniert gut bei der Nachsorge. Der Patient zeigt dabei dem Arzt über eine geschützte Videoverbindung seine Wunde, und der entscheidet dann, was weiter zu tun ist. Sitzungen beim Psychotherapeuten könnten künftig auch über Video stattfinden.
Sind Start-ups nur Kooperationspartner oder auch Konkurrenz wie die Fintechs bei den Banken?
Wir müssen aufpassen, dass die Digitalisierung nicht von außen übergestülpt wird. Ich sehe da eher die Gefahr bei den Googles dieser Welt. Bisher schützt uns noch die Regulierung, aber die Politik könnte auf die Idee kommen, sie zu lockern, wenn sie die Vorteile durch externe Anbieter sieht.
Noch eine persönliche Frage: Sie sind gelernter Chirurg und sammeln gerne chirurgische Instrumente. Was sind ihre liebsten Stücke?
Ich mag mein chirurgisches Feldbesteck aus dem Zweiten Weltkrieg. Aber auch den Geburtshelferkoffer, den mein Großvater immer dabeihatte. Er war in den 1970er Jahren der letzte reitende Landarzt Baden-Württembergs. Auf dem Pferd kam er im Winter besser zum Patienten als mit dem Auto. Und für den Fall, dass mal ein Zaun im Weg war, hatte er immer eine Drahtschere dabei. Aber emotional am meisten hänge ich an einer kleinen Stahlplatte. Die habe ich in meiner ersten Operation herausoperiert. Es kostete mich einen Kasten Bier, den Patienten zu überzeugen, sie mir zu überlassen.