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Denkfehler, die uns Geld kosten (22) : Der falsche Charme der Charts

  • -Aktualisiert am

Bild: Jan Bazing

Unser Gehirn ist stets auf der Suche nach Mustern. Es konstruiert diese sogar da, wo es sie eigentlich gar nicht gibt: an der Börse.

          3 Min.

          Aktienkurse führen kuriose Existenzen: Sie ändern ihren Wert fast von Sekunde zu Sekunde, und folgt man ihnen über die Zeit hinweg, ist auf den ersten Blick fast nie ein Muster zu erkennen.

          Auf den zweiten Blick aber schon. Denn in nichts ist unser Gehirn erfinderischer als im Entdecken von Ordnung in chaotischen Zusammenhängen. Und wenn es keine Ordnung gibt, dann konstruiert man eben eine. So sind alle großen Religionen dieser Welt entstanden, und so entstand auch die Chartanalyse.

          Kopf-Schulter-Formation

          Der Begriff steht für die Gesamtheit aller Verfahren, mit denen aus vergangenen Kursverläufen Informationen über die Zukunft einer Aktie abgeleitet werden. Wichtige Signale für Chartanalysten liefert beispielsweise die 200-Tage-Linie: Wenn der Kurs einer Aktie unter den Durchschnitt der vergangenen 200 Börsentage fällt, ist ihrer Meinung nach Vorsicht angesagt. Besser schnell verkaufen, die Reise geht nach unten.

          Auch die berühmte Kopf-Schulter-Formation ist ein solches Verkaufssignal: Wenn ein Aufwärtstrend kurz abgebrochen wird, dann ein neues Hoch erreicht wird, der Kurs dann wieder leicht fällt, dann wieder steigt und nochmals fällt, steht nach Auffassung der Chartanalysten eine größere Trendumkehr bevor. Die Kurslinie erinnert dann entfernt an einen Kopf, der auf zwei Schultern ruht.

          In der einen Hälfte aller Fälle hat man Glück, in der anderen Pech

          Andere Charttechniken setzen auf Trendkanäle, Langfristwellen oder den Kursverlauf an einem Tag: Dabei wird die Spanne zwischen Eröffnungs- und Schlusskurs als kleines Rechteck abgebildet. Abweichungen aus diesem Rechteck nach oben heißen Docht, Abweichungen nach unten heißen Lunte. So entsteht ein sogenannter Kerzen-Chart. Liegt der Schlusskurs über dem Eröffnungskurs, ist die Kerze hohl, andernfalls ist sie schwarz ausgefüllt. Die Idee dazu stammt aus Japan: Schon im 18. Jahrhundert hat der japanische Reishändler Munehisa Homma damit die Kurse an der japanischen Reisbörse untersucht. Je nachdem, wie viele weiße oder schwarze Kerzen aufeinander folgen und wie lang die Dochte und die Lunten jeweils sind, lässt sich angeblich abschätzen, wie der nächste Börsentag verläuft.

          Das Dumme ist nur: Wendet man die Techniken der Chartanalyse in der Praxis an, hat man in der Hälfte aller Fälle Glück und in der Hälfte aller Fälle Pech. Zumindest ist bis jetzt noch kein Investor bekannt, der durch Charttechniken reich geworden wäre. Und auch Simulationen mit historischen Daten liefern immer wieder das gleiche Resultat: Egal welche Charttechnik man auch nimmt - besser als ein normaler Aktienindex schneiden sie in der Regel nicht ab. Oft bringen sie Investoren sogar hohe Verluste ein, wenn man die beträchtlichen Transaktionskosten für den Kauf und Verkauf von Aktien ins Kalkül mit einbezieht.

          Dem Aktienmarkt ist die Vergangenheit egal

          Der Grund für den fehlenden Erfolg der Charttechnik ist ein fundamentaler Konstruktionsfehler: Alle Analyseverfahren schauen nur zurück, sie ziehen ihre Informationen aus der Vergangenheit. Aber dem Aktienmarkt ist die Vergangenheit egal. Denn ein rationaler Investor will nur eines wissen: Was bringt mir ein Papier in Zukunft ein? Das ist natürlich ungewiss. Aber es gibt dennoch ein rationales Näherungsverfahren: Man bildet den Durchschnitt aller unsicheren künftigen Erträge, den sogenannten Erwartungswert. Und dieser statistische Erwartungswert, auf den heutigen Tag diskontiert, bildet dann den rationalen Wert einer Aktie.

          Das funktioniert sogar, obwohl sich viele Börsianer um Durchschnitte und Erwartungswerte nur wenig scheren. Solche sogenannten „Noise Trader“, die nicht an effiziente Märkte glauben und oft auf Börsengerüchte setzen, haben aber auf Dauer keinen Erfolg. Sie bezahlen am Ende nur die Gehälter all der Spezialisten, die Tag für Tag nichts anderes tun, als künftige Entwicklungen möglichst effizient in aktuelle Kurse einzupreisen.

          Wie sich Kurse in der Zukunft entwickeln, kann man nicht vorhersagen

          Diese Fixierung auf die Zukunft ist zugleich der Grund, warum sich Aktienkurse so chaotisch verhalten, wie sie es tun, seitdem es Aktien gibt. Erratische Kursschwankungen sind nämlich kein Zeichen der Verrücktheit der Börsianer, sondern der Beweis des exakten Gegenteils: Wenn der aktuelle Kurs alle verfügbaren Informationen über die Zukunft enthält, dann kann er sich nur ändern, wenn etwas Neues zutage tritt, was man bis dato noch nicht wusste. Darum sind Änderungen von Kursen nicht vorhersagbar.

          Alles, was die Marktteilnehmer zurzeit über die künftigen Erträge einer Kapitalanlage wissen (das gilt für Anleihen und andere liquide Investitionen ebenso), ist schon im aktuellen Kurs enthalten. Kursänderungen müssen unabhängig und chaotisch sein. Das hat als Erster der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Samuelson in einem berühmten Aufsatz aus dem Jahr 1973 mathematisch sauber formuliert. Dieser Aufsatz war das wissenschaftliche Todesurteil für die Chartanalyse. Seitdem lebt sie nur noch als Zombie weiter.

          Walter Krämer ist Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialstatistik der Technischen Universität Dortmund.

          Der Glaube an die Chartanalyse

          Die Falle

          Menschen haben ein Grundbedürfnis nach Ordnung. Das verführt uns dazu, Trends zu sehen, wo es gar keine gibt. Gerne suchen wir auch nach Mustern und deuten in diese Informationen hinein, die so eigentlich gar nicht existieren. So entstehen Parallelwelten zwischen unserer Phantasie und der Wirklichkeit. Unser Handeln am Aktienmarkt ist von den preisbestimmenden Faktoren abgekoppelt.

          Die Gefahr

          So übersehen wir wirklich wichtige preisrelevante Informationen - mit der Folge unnötiger Kursverluste oder entgangener Gewinne. Dazu kommen noch die durch die vielen Kauf- und Verkaufssignale entstehenden, im Prinzip überflüssigen Tranksaktionskosten für den Wertpapierhandel. Auf lange Sicht schlagen auf Charttechnik basierende Handelsstrategien den Markt nicht, sie kosten im Gegenteil viel Geld.

          Die Abhilfe

          Schaue an der Börse nur nach vorne, nie zurück: Börsengeschichte wiederholt sich nicht. Beherzige die alte Weisheit, Aktien zu kaufen und lange Zeit nicht anzusehen. Vermeide hektisches Kaufen und Verkaufen, das macht nur Händler und Banken reich.

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