Verschärfter Anlagenotstand : Die Rendite 10-jähriger Bundesanleihen sinkt unter null Prozent
- Aktualisiert am
Eine Euromünze mit der Abbildung des Bundesadlers - deutsche Anleihen geraten ins Schlingern. Bild: dpa
Der Staatsanleihenmarkt von heute ist historisch mit nichts vergleichbar. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ist die Rendite der zehnjährigen Staatsanleihen heute unter null Prozent gefallen. Experten warnen.
Angesichts der andauernden Unsicherheit über die Brexit-Abstimmung in der nächsten Woche haben sich die Anleger am Dienstag weiter vom deutschen Aktienmarkt verabschiedet. Der Dax fällt weiter und nähert sich dem im Februar aufgestellten Jahrestief von 8699,29 Punkten. Neben der Unsicherheit über den Verbleib Großbritanniens in der EU belastet die Märkte auch die Geldpolitik Amerikas. Von der am Dienstag und Mittwoch tagenden amerikanischen Notenbank Fed wurden allerdings so kurz vor dem britischen Referendum keine Zinserhöhungen erwartet.
Viele Anleger gingen bereits am Montag auf Nummer sicher und kauften Staatsanleihen, was im Gegenzug die Rendite weiter einknicken ließ. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ist die Rendite der zehnjährigen deutschen Staatsanleihenam heutigen Dienstag unter null Prozent gefallen. Damit müssen Anleger noch Geld mitbringen, wenn sie dem Bund Geld leihen wollen.
Die Deutsche Finanzagentur sieht ungeachtet der negativen Rendite zehnjähriger Bundesanleihen keine Marktstörungen. "Die Handelbarkeit von Bundeswertpapieren ist nach wie vor sehr hoch", sagte ein Sprecher der für das Schuldenmanagement des Bundes zuständigen Agentur. "Die Strategie des Bundes ist langfristig ausgerichtet, daher spielt das aktuelle absolute Renditenniveau nur eine untergeordnete Rolle." Ziel bleibe eine nachhaltige Balance zwischen Kosten und Planungssicherheit für das Schuldenportfolio des Bundes.
Bei Titeln mit kürzeren Laufzeiten ist der Negativzins bereits Alltag
Die international richtungsweisenden zehnjährigen Bundesanleihen rentierten am Dienstag bei minus 0,003 Prozent. Bei Titeln mit kürzeren Laufzeiten ist der Negativzins bereits Alltag: Die Investition in zweijährige Papiere ist seit Mitte 2014 durchgängig ein Verlustgeschäft. Die Bundesrepublik ist das zweite Land aus der Riege der sieben führenden Industrienationen (G7), dessen zehnjährige Titel unter null Prozent rentieren. Die vergleichbaren japanischen Papiere notieren seit Anfang März in negativem Terrain.
Der Staatsanleihenmarkt von heute ist historisch mit nichts vergleichbar. Nie zuvor haben Händler so viel dafür bezahlt Anleihen im Volumen von Billionen Dollar zu halten und so wenig dafür bekommen. Bondmarkt-Experte Jack Malvey hat bis 1871 in der Vergangenheit geforscht und konnte keinen Zeitraum finden, in dem die globalen Renditen auch nur annähernd so niedrig waren wie heute.
Noch weiter ging Bill Gross, der per Twitter äußerte, die Renditen seien derzeit die niedrigsten in "500 Jahren aufgezeichneter Geschichte." Bescheidenes Wirtschaftswachstum, negative Zinsen und außerordentliche Käufe der Zentralbanken haben dafür gesorgt, dass Staatsanleihen bei Investoren gefragt bleiben, obwohl die Rendite von Papieren im Volumen von über 8 Billionen Dollar unter null gesunken ist.
Investoren verzichten auf jegliche Sicherheitsmarge und treiben die Kurse immer höher. Damit wächst die Sorge, dass die schier unersättliche Nachfrage die Investoren blind gemacht hat für mögliche Gefahren, die zu schmerzhaften Verlusten führen können - zumal die Notenbank Federal Reserve auf Kurs ist, die Zinsen zu erhöhen.
Es steht viel auf dem Spiel
„Das macht den Markt absolut anfälliger", warnt Torsten Slok, internationaler Chefökonom bei der Deutsche Bank AG in New York. Über die Blase am Bondmarkt hinaus liefert die Historie einige Hinweise. Die Rendite 10-jähriger amerikanischer Treasuries liegt mit 1,62 Prozent inzwischen unter der Dividendenrendite der Aktien im S&P 500 Index von 2,17 Prozent.
Damit sind die Bonds in Relation zu Aktien seit fünf Monaten überteuert. Das ist erst das dritte Mal in den letzten 50 Jahren passiert und nach den letzten zwei Malen erlitten Treasuries die größten jemals verzeichneten Jahresverluste: 2009 waren es 3,7 Prozent und 2013 3,4 Prozent, wie aus Index-Daten von Bank of America Corp. hervorgeht.
Viel steht auf dem Spiel: Die durchschnittliche Rendite für 10-jährige Bonds in Amerika, Japan, Deutschland und Großbritannien - mit einem Volumen an ausstehenden Staatsanleihen von über 25 Billionen Dollar - ist in der vergangenen Woche nach Daten von Bank of New York Mellon Corp. auf 0,69 Prozent gesunken. Das ist der niedrigste bislang verzeichnete Wert und liegt deutlich unter den durchschnittlich fünf Prozent Rendite über den Zeitraum der letzten 145 Jahre.
Bei derart niedrigen Renditen lassen sich Käufer keinen Raum für Irrtümer. In den Vereinigten Staaten liegt die Laufzeitprämie, die den Renditeunterschied zwischen langfristigen und kurzfristigen Anleihen zum Ausdruck bringt, mittlerweile bei minus 0,47 Prozentpunkten für 10-jährige Treasuries. Die Prämie sollte eigentlich im positiven Bereich liegen und tat das auch in fast jedem der letzten 50 Jahre. Aber seit Jahresanfang wurde aus dem Aufschlag ein Abschlag, was signalisiert, dass Investoren kein Risiko am Horizont ausmachen, das die Renditen höher treiben könnte. Gleiches gilt für Japan, Deutschland und Großbritannien.
Die "Laufzeitprämie sollte eigentlich fast niemals negativ sein, aber wir befinden uns in einer neuen Normalität", sagt Stanley Sun, Stratege bei Nomura Holdings Inc. in New York. Für einige Bondmarkt-Experten ist das ein Grund, Alarm zu schlagen. Gross, Manager des Janus Global Unconstrained Bond Fund im Volumen von 1,3 Mrd. Dollar, sagte, die ultraniedrigen Bondrenditen weltweit seien eine "Supernova, die eines Tages explodieren wird". Malvey, globaler Chef-Marktstratege bei Bank of New York Mellon, ist optimistischer, gibt aber zu, dass "die Möglichkeit unbeabsichtigter Folgen nicht ausgeschlossen werden kann". Was auch immer geschehen wird, eines ist klar: Einen Bondmarkt wie diesen hat es noch nie gegeben.
Das sollten Sie zur zehnjährigen Bundesanleihe wissen
Warum ist die zehnjährige Bundesanleihe so wichtig für den Markt?
Banken müssen als Puffer für schlechte Zeiten Wertpapiere in ihrem Portfolio haben, die sie notfalls rasch zu Geld machen können. Hier kommen Bundesanleihen ins Spiel. Ihnen verleihe allein die Größe der deutschen Volkswirtschaft Gewicht, sagt Folker Hellmeyer, Chef-Analyst der Bremer Landesbank. "Außerdem haben die deutsche Regierung und die Bundesbank immer eine Stabilitätspolitik verfolgt."
Für den Analysten Michael Schulz von der NordLB sind die Papiere ebenfalls ein fast risikoloses Investment. "Der deutsche Staat ist über jeden Zweifel erhaben. Das ist fundamental begründet durch das robuste Wirtschaftswachstum, die niedrige Arbeitslosigkeit und die vergleichsweise gesunden Staatsfinanzen." Alle großen Ratingagenturen bewertet deshalb die Bonität Deutschlands mit der Bestnote AAA.
Anleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren sind rund um die Welt zum wichtigsten Finanzierungsinstrument institutioneller Anleger avanciert. Ein Grund hierfür sei, dass die durchschnittliche Laufzeit aller ausgegebenen Papiere bei etwa acht Jahren liege, sagt Chef-Ökonom Hellmeyer.
Wie kommt es zum Negativzins?
Europa hangelt sich seit Jahren von Krise zu Krise. Von der Finanz- zur Staatsschulden- und Griechenland- bis hin zur Flüchtlingskrise. Akut ist derzeit vor allem die Gefahr eines EU-Abschieds von Großbritannien, sollte sich beim Referendum am 23. Juni eine Mehrheit der Briten dafür aussprechen. Kommt es dazu, steht die Zukunft der gesamten Europäischen Union auf dem Spiel. Experten befürchten ein weltweites Börsenbeben. Auch eine Rezession in Großbritannien und bei wichtigen Handelspartnern sagen einige Ökonomen voraus. Investoren müssen solche Risiken einkalkulieren. "In Zeiten erhöhter Verunsicherung greifen Anleger zu den Papieren mit der geringsten Ausfallwahrscheinlichkeit", erklärt Schulz. "Und das sind nun einmal die Bundesanleihen."
Warum sind Bundesanleihen für Anleger noch attraktiv?
Der riesige Markt: An einem durchschnittlichen Handelstag wechseln Bundeswertpapiere in Höhe von rund 20 Milliarden Euro den Besitzer. Die derzeit im Umlauf befindlichen zehnjährigen Bundesanleihen haben einen Wert von fast 500 Milliarden Euro. Am Sekundärmarkt - etwa europäische Wertpapierbörsen, elektronische Handelsplattformen und außerbörslich - wird aber pro Jahr ein Volumen von etwa 2,5 Billionen Euro gehandelt, also rund das Fünffache. Nur der Markt für US-Staatsanleihen ist noch liquider. Das bedeutet, dass Besitzer ihre Papiere praktisch jederzeit größere Bestände zu Geld machen können.
Was hat die Anleihe mit den Haushalt der Bundesrepublik zu tun?
Die zehnjährige Bundesanleihe ist das mit Abstand wichtigste Instrument zur Finanzierung des Schuldenberges des Bundes. Dieser hatte zum Ende des ersten Quartals eine Höhe von 1,08 Billionen Euro. Knapp die Hälfte der Schulden besteht aus zehnjährigen Bundesanleihen. Daneben begibt die Bundesregierung auch Anleihen mit einer Laufzeiten zwischen wenigen Monaten und 30 Jahren. Insgesamt bestehen fast 98 Prozent der Schulden des Bundes und seiner Nebenhaushalte aus börsenfähigen Wertpapieren.
Die Bundesregierung nimmt zwar seit 2014 keine neuen Schulden mehr auf ("schwarze Null"). Allerdings muss sie jedes Jahr rund 20 Prozent der Altschulden umfinanzieren, weil alte Anleihen auslaufen und durch neue ersetzt werden müssen.
Welche Rolle hat die EZB?
Eine sehr große Rolle. Sie drückt mit ihrer Geldpolitik bewusst die Zinsen, um Konjunktur und Preise anzukurbeln. Sie kauft seit März 2015 Staatspapiere im Volumen von inzwischen 80 Milliarden Euro monatlich. Inzwischen sammelt sie zudem Bonds von Großkonzernen am Kapitalmarkt auf. "Sie tritt damit in fast allen Anleihemärkten als größer Käufer auf", sagt Schulz. "Diese große Nachfrage führt im Umkehrschluss zwangsläufig zu niedrigen Zinsen."
Wer kauft überhaupt Bundeswertpapiere?
Hauptabnehmer sind Versicherer und Pensionsfonds. Sie sind gesetzlich verpflichtet, einen Teil ihrer Gelder in Staatsanleihen anzulegen.
Welche Folgen hat der Negativzins für die Anleger?
Negative Renditen verhageln vielen Banken die Bilanz. Sie sind nicht nur eine Belastung für das Anlagevermögen. Wegen der geringeren Handelsumsätze verdienen die Institute auch weniger Provisionen. Für Privatanleger am auffälligsten sind die fallenden Garantiezinsen auf Lebens- und Rentenversicherungen. Weil die Finanzkonzerne mit Anleihen kein Geld mehr verdienen, haben sie Schwierigkeiten, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen.
Wer ist ein Profiteur vom aktuellen Zinstief?
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Zwar haben die an den Börsen gezahlten Zinssätze keinen direkten, sehr wohl aber einen indirekten Effekt auf die Kosten des Bundes als Emittent der Anleihen. Um eine neue zehnjährige Bundesanleihe am Markt loszuschlagen, muss Schäuble wegen der großen Nachfrage nur noch einen festen jährlichen Kupon von 0,5 Prozent anbieten - vor zehn Jahren waren es noch vier Prozent. Weil auch die vom Bund gezahlten Garantiezinsen für seine anderen Wertpapiere stark gesunken sind, hat Schäuble bereits Milliarden gespart: In diesem Jahr sind im Bundeshaushalt Zinsausgaben von 21,1 Milliarden Euro geplant, im Entwurf für den Etat 2017 sogar nur 19,1 Milliarden Euro. 2008 waren die Zinsausgaben mit 40,2 Milliarden Euro mehr als doppelt so hoch.