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Zum Tod von Michael Stolleis : Kalendergeschichten nach dem Nationalsozialismus

Seine Kunst war die der Verdichtung seiner Generationserfahrung: Michael Stolleis Bild: Picture-Alliance

Er war ein gut organisierter und hochempfindlicher Mensch, sein Lebenswerk die „Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland“. Nun ist der Historiker Michael Stolleis kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag gestorben.

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          Die letzte E-Mail von Michael Stolleis kam vor sechs Wochen. Sie betraf einen Todesfall. Ein älterer Kollege war gestorben, und Stolleis wollte das Seine dafür tun, dass in dieser Zeitung ein angemessener Nachruf erschien. Er umriss den Rang des Verstorbenen und wies insbesondere auf die Dissertation über Carl Schmitt hin, den Beginn der kritischen Schmitt-Forschung in Schmitts Fach. Mit knappsten Strichen zeichnete Stolleis ein Porträt seines Freundes: Er war „ein stiller, bescheidener, aber doch selbstbewusster Mensch mit einem verschmitzten Humor“ und „hat sehr ausgleichend gewirkt“. Stolleis selbst konnte den Nachruf nicht schreiben. Er war sehr krank und lag in der Klinik. Für den Genesungswunsch bedankte er sich nicht mehr. Sonst hatte er immer alles postwendend beantwortet. Der Dank für den Weihnachtsgruß traf verlässlich am 27. Dezember ein. Vorgestern, am 18. März 2021, ist Michael Stolleis gestorben.

          Patrick Bahners
          Feuilletonkorrespondent in Köln und zuständig für „Geisteswissenschaften“.

          Zeitdisziplin ist so etwas wie die äußerlichste, formale Gestalt geistiger Ordnung. Zwischen 1988 und 1999 erschienen bei C.H. Beck die ersten drei Bände der „Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland“ von Michael Stolleis. Der Abschlussband brauchte dann noch einmal zwölf Jahre. Er behandelt die Nachkriegsepoche, die Lebenszeit des Verfassers, aber man kann ausschließen, dass skrupulöse Selbstreflexion die Fertigstellung verzögerte. Denn solche Selbstreflexion stand am Anfang der Arbeit des Rechtshistorikers Stolleis, begleitete und prägte sie. Die für einen deutschen Juristen des Geburtsjahrgangs 1941 unabweisbare Besorgnis der Befangenheit verpflichtet erst recht zum Versuch der Objektivierung.

          Michael Stolleis war ein sehr gut organisierter und zugleich hochempfindlicher Mensch, der für die Arbeit und die öffentlichen Dinge lebte, zu denen er auch die Literatur und die Zeitung rechnete. Er hatte einen Habitus ausgebildet, eine Stabilität des berechenbaren Verhaltens, die zur produktiven Mitarbeit in Institutionen befähigt bei gleichzeitiger Konservierung innerer Distanz. So gut hatte er die Sachlichkeit kultiviert, dass sie wieder in persönliche Liebenswürdigkeit umschlug und er durch Bescheidenheit entwaffnete.

          Ein Winzersohn wird Welthistoriker

          Einen Jungredakteur sprach er 1989 auf einer Tagung an: „Ich möchte mich Ihnen vorstellen, ich komme auch aus Frankfurt.“ Ja, er kam aus Frankfurt, war als Universitätsprofessor seit 1974 und Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte seit 1991 eine Instanz im geistigen Leben der Stadt durch seine ausgleichende Verbindung von Personenkenntnis und Sachinteresse, obwohl er wie viele Frankfurter hier nicht geboren war. Nach dem Abitur absolvierte er eine Winzerlehre. Sein Vater war Winzer, allerdings im Nebenerwerb, war auch schon Jurist und 1931 mit einer Arbeit zum Arbeiterschutz promoviert worden – der Sozialstaat war ein großes Thema des Sohnes, der dem Andenken des 1986 verstorbenen Vaters den ersten Band der „Geschichte des öffentlichen Rechts“ widmete. Erich Stolleis war von 1937 bis 1941 Oberbürgermeister von Ludwigshafen. An seinem Fall lassen sich die Spielräume von Mitarbeit und Resistenz studieren.

          In seiner Dankesrede für den Balzan-Preis sagte Michael Stolleis: „Meine Generation, die in Frieden, Freiheit und Wohlstand groß geworden ist, war die Generation der Kinder des Nationalsozialismus. Wir haben uns verpflichtet gefühlt, uns damit zu beschäftigen.“ Einen Aufsatz über einen Professor seiner Münchner Studienzeit, der an Judendeportationen mitgewirkt hatte, beschloss Stolleis 2017 mit dem Satz: „Ob die vorliegende Geschichte für unbefangene Leser erzählenswert war, vermag der Autor nicht zu entscheiden.“ Er hatte über diesen von sich aus nicht weiter bedeutenden Mann eine Kalendergeschichte geschrieben, eine Fallstudie über die Wirkung der Zeit.

          Johann Peter Hebel war der Lieblingsautor von Michael Stolleis. Vor zwanzig Jahren schrieb er hier über ihn: „Seine Kunst ist vielleicht zu fein, um leicht erkannt zu werden. Sie ist wesentlich Verdichtung, präzise Setzung der Worte.“ Hebels berühmteste Geschichte, „Unverhofftes Wiedersehen“, brachte er auf eine sozialhistorische Pointe: Für die Alte, die ihren toten Bräutigam ansieht, „rundet sich ein erfülltes Arbeitsleben in der Provinz, dessen siebzigjährige Dauer, ungeheure Fassungskraft und Elastizität“ sich von der Weltgeschichte abheben. Erfüllt war das Arbeitsleben, das sich vier Monate vor dem achtzigsten Geburtstag von Michael Stolleis runden musste.

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