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Zum Tod von Martin Schloemann : Gläubig mit Gegenwartssinn

  • -Aktualisiert am

Martin Schloemann (1931 - 2022). Bild: privat

Der Gelehrte Martin Schloemann war einer der ersten Theologen, die über die Ökokrise nachdachten. Nun ist er im Alter von neunzig Jahren gestorben. Ein Nachruf.

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          „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen“, soll Luther gesagt haben. Der Kirchenhistoriker Martin Schloemann ging in einer faszinierenden mentalitätsgeschichtlichen Studie der Wirkungsgeschichte des Luther zugeschriebenen, aber nicht von ihm stammenden „Apfelbäumchenwortes“ in Protestantismus und deutscher Politik nach. Am 5. Juni 1931 in Witten geboren, wuchs Schloemann in einem evangelischen Pfarrhaus in Bochum und Höxter auf. Das Studium führte ihn nach Lund, wo er neben der schwedischen „Lutherrenaissance“ auch seine Frau kennenlernte. 1960 wurde er in Münster mit einer gewichtigen Arbeit zum Gesetzesbegriff bei Luther und dessen Streit mit seinem Freund Agricola promoviert, der die libertas christiana als Freiheit von jedem Gesetz gedeutet hatte. Lutherforschung bildet eine wichtige Konstante in Schloemanns Lebenswerk.

          1961 kehrte er als Pastor der Deutschen St.-Gertrud-Gemeinde in Stockholm in das Heimatland seiner Frau zurück. Drei Jahre später reizte es ihn, am Aufbau der Bochumer Universität mitzuwirken. Er gehörte hier zu jener Gummistiefelgeneration, die schon Bibliotheken entwarf und Curricula plante, als den Campus noch Bauarbeiter mit Betonmischmaschinen bevölkerten. Schloemann reiste mit viel Geld durch die Republik, um für die beiden Theologischen Fakultäten alte Gelehrtenbibliotheken zu erwerben.

          Seine Bochumer Habilitationsschrift über den pietistisch geprägten Hallenser „Übergangstheologen“ Siegmund Jacob Baumgarten gilt als ein klassischer Text der Aufklärungsforschung. Baumgarten, von Voltaire nach einem Besuch in Halle die „Krone deutscher Gelehrten“ genannt, hatte als erster Theologe überhaupt statt einer „Dogmatik“ eine „Glaubenslehre“ geschrieben, in der das Eigenrecht des frommen Einzelnen gegenüber der kirchlichen Institution emanzipatorisch eingeklagt wurde. Der Lehrer Johann Joachim Winckelmanns steht für das Ende der vormodernen altlutherischen Orthodoxie und die erste Etappe einer aufklärerischen, neuprotestantischen Theologie; deshalb die Rede vom „Übergang“. In langen Monaten härtester Archivarbeit in der DDR gelang es Schloemann, ein grundlegend neues Bild Baumgartens und überhaupt der protestantischen Theologie im frühen 18. Jahrhundert zu entwerfen.

          In Wuppertal hatte Schloemann seit 1974 einen Lehrstuhl für Historische und Systematische Theologie inne. Trotz starker historischer Neigungen war ihm ein hellwacher, kluger Sinn für Gegenwartsprobleme gegeben. Seine Bochumer Antrittsvorlesung hielt er 1973 über „Wachstumstod und Eschatologie. Die Herausforderung christlicher Theologie durch die Umweltkrise“.

          Carl Amery hatte im Jahr zuvor die „gnadenlosen Folgen des Christentums“ kritisiert, das nur die zerstörerische Ideologie des „Macht Euch die Erde untertan“ gepredigt habe. Schloemann war der einzige Theologe im Lande, der Amerys Angriff ernst nahm, und auch der erste Divinalexperte, der über die Ökokrise nachdachte.

          Am frühen Morgen des 27. Januar ist der hochgelehrte Kenner theologischer Debatten über die Eschatologie, die „Lehre von den letzten Dingen“, sieben Monate nach seinem 90. Geburtstag und im Glauben an seinen gnädigen Gott friedlich entschlafen. Ein „Apfelbäumchen“ hat er auf seine Weise zuvor noch gepflanzt.

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